Keynes
Gesellschaft

F.IV. Europa: Weniger Staatsschulden durch Austeritätspolitik ?

Dadurch werden zwei wichtige Größen beeinflusst, nämlich die (jährliche) Neuverschuldung und die „Altlast“ des bestehenden Schuldenstands. Beide werden in Europa im Maastricht-Vertrag geregelt: Die Neuverschuldung darf 3% des BIP nicht überschreiten; der Schuldenstand soll 60% des BIP nicht übersteigen. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht die Neuverschuldung.

F.IV.1 Literatur gegen die Austeritätspolitik

Besonders in den Staaten des Euro-Raums wird versucht, der staatlichen Neuverschuldung durch eine – in Deutschland sogar im Grundgesetz verankerte – Schuldenbremse entgegenzutreten. In der politischen Diskussion darüber werden jedoch die Kreislaufwirkungen von Schuldenbremsen häufig vernachlässigt. Dies kritisiert insbesondere die Mehrheit der Mitglieder einer „interdisziplinären Arbeitsgruppe“ aus Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern mit ganz unterschiedlichen Ausgangsmeinungen. Darüber berichtet deren Sprecher, Holtfrerich, in:

• Carl-Ludwig-Holtfrerich (2015), Staatsschulden: Ursachen, Wirkungen und Grenzen. In: “Wirtschaftdienst“, 95. Jg., S.529-533. Der Bericht selber ist im Internet unter:

Linkout2https://www.jfki.fu-berlin.de/faculty/economics/research/holtfrerich/Wirtschaftsdienst_8-2015_Holtfrerich_Staatsschulden.pdf

zu finden.

Die folgende Feststellung von Holtfrerich (siehe S.529) ist es wert, wiedergegeben zu werden:

„Der Anteil der gesamten Staatsausgaben am BIP, die Staatsquote, betrug in Deutschland während der letzten zehn Jahre rund 45%. Einen so bedeutenden Sektor der Wirtschaft von der Kreditfinanzierung sogar seiner Nettoinvestitionen auszuschließen, ist angesichts des riesigen Ersparnisaufkommens in Deutschland und in der Welt kontraproduktiv. Denn die Kreditnachfrage des Unternehmenssektors und des Sektors der privaten Haushalte bleibt weit dahinter zurück.“

Wer ausführlich über die Austeritätspolitik, ihrer Geschichte, ihrer negativen Folgen und ihrer Vergeblichkeit, informiert werden möchte, für den sei hingewiesen auf:
• Mark Blyth (2014), Wie Europa sich kaputt spart. Die gescheiterte Idee der Austeritätspolitik. Bonn (Dietz-Verlag) 350 Seiten. Englisches Original: Austerity: The History of a Dangerous Idea Oxford University Press 2013.

Der Grundgedanke, der dem Buch von Mark Blyth, Prof. für Internationale Politische Ökonomie an der renommierten Brown-University in Providence (USA), zugrundeliegt, kommt in folgendem Zitat zum Ausdruck (S.27):

„Dass Austerität einfach nicht funktioniert, ist der erste Grund dafür, dass es sich hierbei um eine gefährliche Idee handelt. Aber Sparpolitik ist auch deshalb gefährlich, weil sie sowohl von Politikern als auch von den Medien als Teil einer fundamental falschen Analyse präsentiert wird, nämlich als Preis, der für eine Staatsschuldenkrise zu entrichten sei. Der Subtext lautet: Der Staat hat „ zu viel ausgegeben“ und wir haben „über unsere Verhältnisse gelebt“. Dies ist eine Verdrehung der Tatsachen. Die Probleme, einschließlich der Krise der Anleihenmärkte, gingen von den Banken aus – und sie werden dort enden. Der gegenwärtige Schlamassel ist keine von übermäßigen Regierungsausgaben hervorgerufene Staatsschuldenkrise, außer in Griechenland … Dass wir überhaupt von einer ´Staatsschuldenkrise` sprechen, deutet auf ein äußerst interessantes politisches Ablenkungsmanöver hin.

Mit dem Entstehen, den politischen Hintergründen und dem Wiederaufleben der Austeritätspolitik befasst sich ausführlich:
• Suzanne Konzelmann (2014), The Political Economics of Austerity. “Cambridge Journal of Economics, Vol. 38, S.701-741.

Die Frage, welche negativen Folgen die Austeritätspolitik insbesondere in den südeuropäischen Staaten für das Europäische Sozialmodell, den Zusammenhalt und die Solidarität der Bevölkerung Europas haben wird, diskutieren u.a.
• Peter Becker (2015), Europas soziale Dimension. Die Suche nach der Balance zwischen europäischer Solidarität und nationaler Zuständigkeit. Berlin (SWP-Studie Nr. S 21)
• Klaus Busch u.a. (2012), Eurokrise, Austeritätspolitik und das Europäische Sozialmodell. Wie die Krisenpolitik in Südeuropa die soziale Dimension der EU bedroht. Berlin (Internationale Politikanalyse der Friedrich- Ebert- Stiftung)

 

F.IV.2 Eurobonds – eine verpasste Chance

Da die Finanzmärkte an der Zahlungsfähigkeit der öffentlichen Haushalte mehrerer Mitgliedstaaten(Irland und südlich gelegene Staaten) zweifelten, hätte ein Ausweg aus dem in F.II.2 beschriebenen Teufelskreis darin bestanden, diese Staaten aus der Abhängigkeit von Geldgebern dadurch zu befreien, dass die Eurostaaten gemeinsame, von den Euro-Staaten insgesamt garantierte Wertpapiere („Eurobonds“) begeben. Ein entsprechender Vorschlag wurde bereits 2009 vom damaligen Vorsitzenden der Eurogruppe, Claude Juncker, vorgelegt. Um dem Aspekt Rechnung zu tragen, dass ein Ausweichen auf Eurobonds es den „wackligen“ Staaten leichter macht, ihre Neuverschuldung zu finanzieren, schlug Juncker vor, nur Altschulden in Höhe von 40% des BIP auf diese Weise zu finanzieren. Etwas weiter gehen
• Jaques Delpla/ Jakob von Weizsäcker (2014) Eurobonds: Das Blue Bond-Konzept und seine Implikationen. „Perspektiven“ (Hrg. von der Friedrich Ebert-Stiftung).
Sie schlagen vor, den vom Maastricht-Vertrag erlaubten Teil des Staatsverschuldung (in Höhe von 60% des BIP) durch Eurobonds zu finanzieren. Auch

• Sebastian Dullien / Daniela Schwarzer (2010) Umgang mit Staatsbankrotten in der Eurozone: Stabilisierungsfonds, Insolvenzrecht für Staaten und Eurobonds. Studie Nr.19 der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): Berlin

sprechen sich für Eurobonds als einen von drei Komponenten ihres Vorschlags aus.

Weitere Literatur zu diesem Thema:

• Peter Spahn (2011), Die Euro-Verschuldung der Nationalstaaten als Schwachstelle der EWU. „Wirtschaftsdienst“, 91. Jg, S. 531-536
• Hanno Beck / Dirk Wenzel (2011), Eurobonds: Wunderwaffe oder Sprengsatz für die Europäische Union? „Wirtschaftsdienst“, 91. Jg. S. 717-723
• Paul Welfens (2011), Für zentralisierte Eurobonds, Strukturreform und eine Euro-Union. „Wirtschaftsdienst“, 91. Jg., S. 613-620.
• Makrokonsortium aus JMK, OFCE, WiFO (2013) Fiskalpakt belastet Euroraum. IMK- Report Nr. 71/2012
• George Soros (2013), How to Save the Euro. CES-ifo Forum 2/2013, S. 41-43
• Dirk Meyer (2013), Eurobonds: Weichenstellung für Europa. „Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik“, Nr. 138, S. 2-4.

Leider stieß der Vorschlag auf heftige Ablehnung, besonders in Deutschland. Obwohl auch die OECD in ihrem Wirtschaftsausblick vom Mai 2012 die Einführung von Eurobonds forderte, war die deutsche Regierung zu diesem solidarischen Schritt nicht bereit, der nur eine leichte Erhöhung der für Staatsanleihen zu zahlenden Zinsen gekostet, aber viele Probleme für Deutschland bei niedrigerem finanziellen Aufwand gelöst hätte.

Unter diesen Umständen hat der SVR in seinem Jahresgutachten 2011/12 einen anderen Lösungsweg vorgeschlagen, nämlich einen europäischen Schuldentilgungsfonds, in den die Mitgliedstaaten des Euroraums den Teil ihrer Staatsschulden, die 60%-Grenzen des Maastricht-Vertrags zu einem bestimmten Zeitpunkt überschreitet, verlagern können. Sie werden dabei verpflichtet, ihn nach festen Regeln im Laufe von 25 Jahren zu tilgen. Dieser Fonds finanziert sich durch gemeinsam verbürgte Anleihen. Allerdings verknüpft der SVR den Fonds mit der Einhaltung des Fiskalpakts und Strukturreformen. Der „Teufelskreis“ wird also nur abgebremst. Selbst dieser Vorschlag stieß in Deutschland auf Ablehnung.

Literatur dazu:
• Sachverständigungsrat (2012), Nach dem EU-Gipfel. Zeit für langfristige Lösungen nutzen. Sondergutachten vom 05.07.2012. Wiesbaden
• Toralf Pusch (2012), Kann ein Schuldentilgungspakt Europa aus der Krise führen? Bonn (Friedrich Ebert- Stiftung – Internationale Politikanalysen)
• Deutsche Bundesbank (2012) Monatsbericht Juni 2012, S.8 ff.

 

F.IV.3 Fiskalpolitik vs „Goldene Regel“?

Das Hauptproblem des schon 1992 beschlossene Maastricht-Kriteriums „max. 3% Neuverschuldung“ besteht darin, dass es keine Rücksicht auf die konjunkturelle Lage nimmt; rezessionsbedingte Mindereinnahmen werden nicht berücksichtigt. Zwar werden inzwischen Überschreitungen der 3%-Klausel von der EU-Kommission toleriert, aber für „Hardliner“ gelten sie immer noch als Verletzung des Maastrichts-Vertrages, und es wird gefordert, das Kriterium streng einzuhalten und Verstöße zu sanktionieren.

Inzwischen ist im Januar 2013 der europäische Fiskalpakt in Kraft getreten. Er erlaubt nur noch ein strukturelles (konjunkturbereinigtes) Defizit der öffentlichen Haushalte von 0,5% des BIP. Allerdings wendet die EU-Kommission ein Verfahren der Konjunkturbereinigung an, dass diese vermeintliche Flexibilität gleich wieder einschränkt. Die EU-Kommission berechnet nämlich das strukturelle Defizit auf dem Umweg über die Differenz zwischen dem potenziellen BIP (dem „Produktionspotential“) und dem tatsächlichen. Indem sie ersteres systematisch zu klein ausweist (vor allem, indem viele arbeitslos gewordene Arbeitskräfte flugs aus den wiederverwendbaren Arbeitskräften herausgerechnet werden), wird ein zu kleiner Teil des Budgetdefizits als konjunkturell und folglich ein zu großer als strukturell ausgewiesen, der durch restriktiv wirkende Maßnahmen ausgeglichen werden muss. Im Einzelnen wird dies nachgewiesen und belegt von
• Erik Klär (2015), Die Eurokrise im Spiegel der Potentialschätzungen: Lehren für eine alternative Wirtschaftspolitik? In: Harald Hagemann, Jürgen Kromphardt, Hrsg., Für eine bessere gesamteuropäische Wirtschaftspolitik. Marburg (Metropolis) , S.83-129.

Wie stark der Fiskalpakt der EU von neoliberalem Geist geprägt ist und die negativen und zum Teil verheerenden Folgen der vielen EU-Staaten aufgezwungenen Austeritätspolitik ausblendet, zeigt
• Stephan Schulmeister (2014), Der Fiskalpakt- Hauptkomponente einer Systemkrise. WIFO-Working Paper 480/2014.

Einige EU-Staaten, darunter insbesondere Deutschland haben den Fiskalpakt noch durch eine nationale Schuldenbremse ergänzt, die sich – wie der Fiskalpakt – auf die strukturelle Neuverschuldung bezieht.

Eine differenziertere Position zur Schuldenbremse in der EU vertritt
• Ognian Hishow (2012), Schuldenbremsen in der EU: Das ultimative Instrument der Fiskalpolitik? Bremsmechanismus, Bremskraft und Bremsleistung. SWP- Studie, S.2. Berlin (SWP)
Aber auch Hishow erkennt, dass die EU-Schuldenbremse zu rigide ist und stärker flexibilisiert werden muss, wofür er einen Vorschlag präsentiert.

Um sich über die Pro und Contra der Konsolidierungspolitik in Europa zu informieren, ist das Heft 04/2013 der „Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung“ des DIW (Berlin) zu dem Thema „Nachhaltige europäische Konsolidierungspolitik – Chancen und Herausforderungen“ (239 Seiten) eine sehr gute Grundlage.

Inzwischen wächst die Einsicht: Wenn man an der Konsolidierungspolitik im Grundsatz festhalten will, ist es nötig, sie um eine Wachstumsstrategie zu ergänzen, die einen „europäischen Wachstumsimpuls“ setzt. Diese Position konnte man jüngst sogar von der neoliberal dominierten Wirtschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung lesen. So schreibt dort (in Nr. 58) Alexander Mühlauer am 10.03.2016 :
„ Was es jetzt noch bräuchte, wäre ein gesamteuropäischer Wachstumsimpuls …Doch so lange sich das wirtschaftlich stärkste Land Europas sträubt, deutlich mehr Geld in Investitionen zu stecken, wird dieses wirtschaftspolitische Vakuum nicht gefüllt. Schon wahr, in Deutschland werden die öffentlichen Ausgaben angesichts der Flüchtlingskrise steigen. Aber das allein genügt nicht. Es braucht mehr Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Wohnungsbau. Berlin würde damit ein Signal setzten, das andere Staaten mitziehen kann, auf einen neuen Weg des Wachstums.“

Kritische Kommentare zur EU-Fiskalpolitik, die in diese Richtung argumentieren oder auch andere Erwägungen anstellen, erschienen auch des öfteren in den kurzen Texten der Serie „WISO direkt“ der Friedrich Ebert-Stiftung. Hinweisen möchten ich auf:
• Peter Spahn (2010), Die Schuldenkrise der Europäischen Währungsunion. „WISO direkt“, Dez. 2010
• Markus Marterbauer / Georg Feigl (2012) Die EU-Fiskalpolitik braucht gesamtwirtschaftlichen Fokus und höhere Einnahmen. „WISO direkt“, Aug. 2012.

Ein zentraler Einwand gegen den Fiskalpakt und daran orientierte Schuldenbremsen richtet sich dagegen, dass selbst die Kreditfinanzierung von Investitionen ganz (oder fast ganz) unterbunden wird. Damit wird die altehrwürdige finanzwissenschaftliche „Goldene Regel“ missachtet, wonach öffentliche Investitionen über Kredit finanziert werden können, weil ihre Nutzung erst in späteren Jahren erfolgen kann und sie auch späteren Generationen zugute kommen.

Für die Rückkehr zur „Goldenen Regel“ plädiert u.a.
• Achim Truger (2015), Reform der EU-Finanzpolitik. Die Goldene Regel für öffentliche Investitionen, „WISO direkt“, Nr. 35/2015. Truger behandelt dabei auch die Problematik der heute geltenden Abgrenzung zwischen öffentlichen Investitionen und öffentlichem Konsum.

 

Auch in der EU-Kommission wächst die Unzufriedenheit damit, dass die rigide Fiskalpakt-Regeln direkt vor allem zu Lasten der öffentlichen Investitionen gehen –und indirekt- wegen ihrer restriktiven Wirkungen auch zu Lasten der privaten Investitionen. Insgesamt liegen in der EU die Investitionen 15% unter dem Niveau von 2007. Der Präsident der EU-Kommission, Claude Juncker, hat daher im Jahr 2015 den alsbald nach ihm benannten Juncker-Plan vorgelegt, mit dem Europas Investitionslücke geschlossen werden soll. Zu diesem Zweck wurde ein „Europäischer Fonds für strategische Investitionen“ (EFSI) gegründet. Er übernimmt Garantien für Investitionen in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), für Umweltprojekte, Infrastruktur und Innovationen, um deren Finanzierung zu erleichtern. Sein Startkapital von 16 Mrd. Euro stellt die EU in Form von Garantiezusagen bereit. Die Europäische Investitionsbank (EIB), die den Fonds verwaltet, leistet einen weiteren Beitrag von 5 Mrd. Euro. Die damit abgesicherten Kredite dienen zur Ko-Finanzierung von Projekten, die riskanter sind als jede, die die EIB normalerweise fördert.

Die EU-Kommission erhofft sich von dieser Förderung eine 15-fache Hebelwirkung, weil die Förderung durch den Fonds die Gewinnung weiterer (privater) Mittel ermöglicht. Die EU-Kommission hofft dabei, dass die Garantien nur selten in Anspruch genommen werden, sodass der EU-Haushalt nur wenig belastet wird. Siehe im Einzelnen:
• BMF (2015), Investieren in Europas Zukunft – Die europäische Investitionsoffensive geht an den Start. Monatsbericht Juli , S. 28-36.
• Der Juncker-Plan. In: DER FREITAG vom 14.05.2015

Kritisch und skeptisch äußert sich dazu :
• Ulrich Salzburg (2015),Die EU-Investitionsoffensive. IfW – Box 2015.16 Kiel


F.IV.4 „Musterknabe“ Deutschland ?

Eine besonders rigide und von jedem Kreislaufdenken unbeleckte Position nimmt Deutschland ein, das den Fiskalpakt auf EU-Ebene durchgesetzt und durch die im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse verschärft und zementiert hat. Leider war in Deutschland die neoliberale Indoktrination nicht nur bei der Regierung, sondern auch bei Teilen der Opposition und bei der Bevölkerung sehr erfolgreich.

Dass der Finanzminister die schwarze „Null“ im Bundeshaushalt trotz Flüchtlingszustrom und fast 3 Millionen Arbeitslosen sowie teilweise zerbröselnder Infrastruktur rigoros verteidigt, findet daher weiterhin Beifall. Um dem Rechnung zu tragen und dennoch Wachstumsimpulse setzen zu können, hat Wirtschaftsminister Gabriel die von ihm berufene „Fratzscher-Kommission“ (so genannt nach ihrem Vorsitzenden, dem Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung) beauftragt, nach Lösungen zu suchen, um trotz des engen Korsetts der Schuldenbremse höhere Investitionen in Deutschland zu erreichen. Die Ergebnisse der Beratungen sind nachzulesen in
• Marcel Fratzscher (2015), Wege zur Finanzierung der öffentlichen Infrastruktur. „Wirtschaftsdienst“, 95. Jg., S447-467
Der Bericht selbst umfasst 95 Seiten. Er ist veröffentlicht als:
• Expertenkommission (2015), Hrsg., Stärkung von Investitionen in Deutschland. Bericht im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel. Berlin (BMWi). Er kann von der Website dieses Ministeriums heruntergeladen werden.

Die Expertenkommission hat Vorschläge für unterschiedliche Problembereiche erarbeitet.
a) Zur Stärkung der kommunalen Infrastruktur schlägt sie vor:
– die Schaffung eines „Nationalen Investitionspakts für Kommunen“, das ein bereits von der Bundesregierung angekündigtes Sondervermögen von 3,5 Mrd. Euro sowie ein weiteres, flexibleres Instrument für die Instandhaltung oder Erweiterung kommunaler Verkehrswege umfassen soll;
– eine Infrastrukturgesellschaft, die den Kommunen bei der Auswahl, Planung und Umsetzung von Investitionsmaßnahmen helfen soll
b) Es soll eine „Infrastruktur-Gesellschaft für die Bundesfernstraßen“ geschaffen werden, die u.a. eigene Kredite aufnehmen kann. Damit diese nicht auf die Schuldenbremse angerechnet werden, sollen die Projekte insbesondere von den LKW-Nutzern finanziert werden
c) Es soll eine zusätzliche private Infrastrukturfinanzierung durch die Schaffung eines öffentlichen Infrastrukturfonds und eines Bürgerfonds ermöglicht werden
d) Die Rahmenbedingungen für private Investitionen sollen verbessert werden

Für die europäische Ebene begrüßt die Expertenkommission den am Ende von F.IV.3 beschriebenen Juncker-Plan

Ein gutes begründetes und mit Daten reich unterfüttertes Plädoyer gegen die deutsche Schuldenbremse bietet die Expertise von
• Dieter Vesper (2013), Wirtschaftspolitische Ideen und finanzpolitische Praxis in Deutschland. Ist die Schuldenbremse (der Fiskalpakt) die Ultima Ratio? Bonn (WISO Diskurs der Friedrich-Ebert-Stiftung, April 2013)
Auch Karl Aiginger, Direktor des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO), kritisiert die restriktive Finanzpolitik in Deutschland und weist darauf hin, dass sie zu dem besonders schwachen Wachstum in Deutschland beigetragen hat. Siehe dafür u.a.
• Karl Aiginger (2013), Dreimal Regimewechsel für Europa: Im Süden, in Brüssel, in Deutschland – Überlegungen zum Junigipfel 2013. Bonn, WISO-direkt, Juni 2013.

Ein besonderes Problem der deutschen Schuldenbremse besteht darin, dass die Bundesländer ab 2010 gar keine neuen Schulden mehr machen dürfen. Es wird ihnen nicht einmal die Kreditfinanzierung von (dringend benötigten) Investitionen erlaubt, sodass sie nicht die „Goldene Regel“ befolgen dürfen. Dies wird vor dem Hintergrund der Schweizer Erfahrungen mit Schuldenbremsen kritisch analysiert von:
• Gebhard Kirchgässner (2014), Die Schuldenbremse der Bundesländer: Eine Fehlkalkulation?, In: „Wirtschaftsdienst“, 94. Jahrgang, S. 721-724.
Kirchgässner verweist insbesondere darauf, dass die Bundesländer in Deutschland -anders als in der Schweiz- keine Steuerautonomie besitzen, andererseits aber dringende Investitionen finanzieren müssen.

F.IV.5 Spezialfall Griechenland

Griechenland ist ein Sonderfall, da nur hier die übermäßig hohe staatliche Neuverschuldung nicht erst die Folge der Finanzkrise und der zu ihrer Überwindung ergriffenen Maßnahmen war, sondern als eigenständiges Problem schon vorher bestand und die Finanzierung der Staatsschulden extrem teuer machten. Hinzu kam der hohe Importüberschuss.

Da Griechenland sich zu vertretbaren Konditionen sich nicht weiter auf dem Kapitalmarkt finanzieren konnte, musste es unter den Rettungsschirm flüchten. Dafür musste es der rigorosen Spar- und Reformauflagen der „Troika“ aus IWF, EU und EZB akzeptieren.

Darüber, wer die Hauptschuld an der immer noch andauernden wirtschaftlichen Krise in Griechenland trägt, gehen die Meinungen weit auseinander. Dementsprechend unterschiedlich sind auch die Lösungsvorschläge.

Durch die Sparauflagen sollte die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte erreicht werden; die Reformauflagen haben das Ziel, die Gütermärkte und den Arbeitsmarkt zu liberalisieren und zu flexibilisieren und so das Preis- und Lohnniveau nach unten drücken, um das griechische Außenhandelsdefizit zu verringern und schließlich zu beseitigen.
In beiden Bereichen gab es Fortschritte, aber auf Kosten einer tiefen Rezension, extrem hoher Arbeitslosigkeit und sozialer Verwerfungen. Außerdem sank zwar die Neuverschuldung deutlich, aber die Staatsschuldenquote stiegt weiter an. Die Meinungen darüber, wie diese Politik zu beurteilen ist und wie (und ob) sie fortgesetzt werden sollen, gehen weit auseinander:

Eine Extremposition vertritt
• Hans-Werner Sinn (2015), Die griechische Tragödie. „ifo-Schuldendienst“, 68. Jg. , Sonderausgabe

Sinn erwartet in neoklassischliberaler Tradition die Lösung der Probleme von Lohn- und Preissenkungen bei Fortsetzung der Konsolidierungspolitik unter Vernachlässigung der Kreislaufzusammenhänge.

Konsequenterweise hält er den Austritt Griechenlands aus dem Euro und die dann folgende Abwertung der Drachme für eine prüfenswerte Option, da sie die (preisliche) Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands enorm verbessern und privates Kapital anlocken würde.
Gegen diese Option argumentieren:
• Illing /Jauch /Zabel(2012), Absurder Leichtsinn. Wer einzelne Länder aus dem Euro entlassen will, riskiert einen Zerfallsprozess, „DIE ZEIT“ vom 03.08.2012

Direkt an den Ursachen setzen an:
• Fratzscher/ Große Steffen/ Rieth (2014), BIP-indexierte Kredite für Griechenland. DIW-Wochenbericht NR. 31/32, 2014

Viel diskutiert wird auch die Frage einen (weiteren) Schuldenschnitts.
Für einen solchen plädiert z.B.
• Jeffrey Sachs (2015), Das Leid stoppen: Warum Griechenland einen Schuldenerlass braucht, und wie er aussehen könnte. „Süddeutsche Zeitung“ vom 29.01.2015

Weitere Literatur zu Griechenland
• Jan Priewe/ Phillip Stachelsky (2015), Griechische Depression – wenn die Chefärzte versagen „WISO direkt“, Bonn, März 2015
• Sebastian Dullien (2015), Austerität in Griechenland: Doch ein Erfolg? „ Wirtschaftsdienst“, 95. Jg. (2015), S. 235-239
• Phillip Heimberger (2015), Die griechische Schuldendebatte und das Mantra von den „notwendigen Strukturreformen“. WISO direkt, Juni 2015

Die erst gegengesetzte Extremposition zu Sinn vertritt der in den USA an der MIT Sloan School of Mangement lehrende Ökonom
• Athanasios Orphanides (2015), The Euro Area Crisis Five Years After the Original Sin. “Credit and Capital Markets”, 48. Jg. , S.535-565

Für ihn bestand die “Original Sin“ in der ersten Vereinbarung zwischen der „Troika“ und Griechenland mit ihren harten Spar- und Reformauflagen.

Die ganze Rubrik F als pdf:
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