Keynes
Gesellschaft

C.II. Erstes neoklassisches Argument gegen Keynes´ Theorie: Nur Theorie der Depression

Das erste Argument, mit dem Keynes´ Theorie und ihre Botschaft in ihre Schranken verwiesen werden sollte, betraf den Geltungsbereich der Theorie von Keynes´.
Bereits der „klassische“ Aufsatz von Hicks aus dem Jahr 1937, hier vorgestellt in der Rubrik „Das IS/LM-Diagramm (Hicks, 1937)“, enthielt das Bestreben, den Geltungsbereich der Lehre von Keynes einzuengen, um den neoklassischen Positionen eine große Bedeutung zuschreiben zu können. So hat Hicks die Theorie von Keynes auf die Situation der horizontalen LM-Kurve, also der Liquiditätsfalle, zu beschränken versucht und sie dementsprechend als Theorie der Depression bezeichnet; dies ungeachtet der Tatsache, dass Keynes (1936, S. 207) zu diesem horizontalen Bereich der Geldnachfragekurve bemerkt hatte: „But whilst this limiting case might become practically important in future, I know of no example of it hitherto“. Der normale Bereich der ansteigenden LM-Kurve könne dagegen, behauptet Hicks, durch die klassische Theorie näherungsweise erklärt werden.

Dagegen wendet sich Samuelson in seinem weit verbreiteten Lehrbuch zur Volkswirtschaftslehre seit seiner 3. Auflage von 1954. Seine Sichtweise lässt sich so zusammenfassen: Bei Unterbeschäftigung ist die Produktion einer Volkswirtschaft durch die Güternachfrage beschränkt, es gelten daher die Überlegungen von Keynes. Wenn es jedoch gelingt, durch geeignete Geld- und Fiskalpolitik die Unterbeschäftigung zu beseitigen und zur Vollbeschäftigung zu gelangen, dann wird das Produktionsvolumen durch die vorhandenen Ressourcen (Arbeit und Sachkapital) begrenzt und damit gelten wieder die klassischen Einsichten: Insbesondere ist in dieser Situation ein Verzicht auf Konsum notwendig, wenn man Produktionskapazitäten für Investitionen freisetzen möchte.
In verschiedenen Auflagen seines Standardlehrbuchs mit dem englischen Titel “Economics. An Introductory Analysis” hat er diese Zuordnung in jeweils anderen Worten beschrieben, sehr klar z.B in der 6. Auflage von 1964, (S. 590):

„By proper use of monetary and fiscal policies nations today can successfully fight off the plague of mass unemployment and the plague of inflation. With reasonably stable full employment a feasible goal, the modern economist can use a ‚neoclassical synthesis’ based on the combination of the modern principles of income determination and the classical truth. Paradoxically, successful application of the principles of income determination does result in a piercing of the monetary veil masking real conditions, does dissipate the topsy-turvy clashes between the whole and the part …and does finally validate the important classical truths and vanquish the paradox of abortive thrift”.

Die amerikanische 6. Auflage erschien in Deutsch als 2.Auflage ebenfalls 1964. Dort lautet dieser Absatz leicht verbessert gegenüber der dortigen Übersetzung:

„Bei richtigem Einsatz der Währungs- und Fiskalpolitik sind die Völker heutzutage in der Lage, die Schrecken von Massenarbeitslo-sigkeit und Inflation zu bannen. Wenn das Ziel einer angemessenen stabilen Vollbeschäftigung erreichbar ist, steht dem modernen Volks-wirt eine „neoklassische Synthese“ zur Verfügung. Sie beruht auf einer Kombination der Grundsätze der modernen Theorie der Bestim-mung des Volkseinkommens mit den klassischen Wahrheiten. Parado-xerweise zerreißt eine erfolgreiche Anwendung der Grundsätze der modernen Theorie der Bestimmung des Volkseinkommens auch den „Geldschleier“, der über den güterwirtschaftlichen Beziehungen liegt. Dadurch lösen sich auch die alles auf den Kopf stellenden Widersprüche zwischen Teil und Ganzem, die zu zahllosen Trug-schlüssen der Verallgemeinerung führten. Die alten klassischen Wahrheiten kommen wieder zur Geltung; das Paradox des erfolglosen Sparens verschwindet.“

Samuelson war also damals noch sehr optimistisch bezüglich der Wirksamkeit der Geld- und Fiskalpolitik; deren Notwendigkeit in Zeiten der Unterbeschäftigung aus der Theorie von Keynes folgt. Er hielt es damals für möglich, Arbeitslosigkeit und Inflation zu beseitigen. Wenn das erreicht ist, ist die Volkswirtschaft wieder in dem Zustand der Vollbeschäftigung, den die neoklassische Theorie allein behandelt; in diesem Zustand begrenzen die verfügbaren Ressourcen (und nicht die Nachfrage) die Produktion. Bei derart erfolgreicher Wirtschaftspolitik gibt es daher eine Synthese von „Keynes“ und (neo-)klassischer Theorie, die Samuelson als „neoklassische Synthese“ bezeichnet.

Ähnlich hatte sich übrigens Keynes (1936, S. 112) selber geäußert: „If the rate of interest were so governed as to maintain continuous full employment, Virtue would resume her sway; – the rate of capital accumulation would depend on the weakness of the propensity to consume. Thus, once again, the tribute that classical economists pay to her is due to their concealed assumption that the rate of interest always is so governed.”
Samuelson spricht von einer neoklassischen Synthese, hätte aber besser von klassisch/keynesianischer Synthese gesprochen. Denn die von Samuelson gewählte Bezeichnung verdeckt, dass Samuelson uneingeschränkt die Position von Keynes vertritt: Bei Unterbeschäftigung sind die Kreislaufzusammenhänge entscheidend, und nur bei Vollbeschäftigung die „klassischen Positionen, weil dort und nur dort das Produktionsvolumen durch die Angebotsseite und die verfügbaren Ressourcen beschränkt wird.

Selbst wenn die Vollbeschäftigung erreicht wird, sind die von Keynes behandelten Kreislaufzusammenhänge zu beachten damit die Vollbeschäftigung erhalten bleibt. Dies ist konträr zu der bis 1936 allein herrschenden neoklassischen Theorie, wonach Unterbeschäftigung nur eine vorübergehende Abweichung vom gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht darstellt, die von den Marktkräften bei flexiblen Löhnen und Preisen automatisch abgebaut wird. Diesem Argument ist Rubrik C.III gewidmet.

Ab der 12.Auflage firmieren als Autoren Samuelson und William Nordhaus. In dieser Auflage und in den späteren von 1985 taucht der Begriff „Neoklassische Synthese“ nicht mehr auf.

Literatur

Hicks, John (1937): Mr. Keynes and the „Classics“; A Suggested Interpretation, “Econometrica”, Vol. 5 (1937), S.147-159. Wiederabgedruckt in: John Hicks, Critical Essays in Monetary Theory. Oxford (Clarendon Press) 1967. Deutch in Barens, Ingo/Capsari. Volker, Das IS/LM- Modell. Entstehung und Wandel. Marburg (Metropolis) 1994, S.31-46

Keynes, John Maynard (1936), The General Theory of Employment, Interest and Money, London (Macmillan), Wiederabgedruckt in: Keynes, J.M., Collected Writings, Vol. X, London u. New York (Macmillan-St. Martin’s Press), 1973. Deutsch in: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes. 11. korrigierte und überarbeitete Auflage. Berlin (Dunker & Humblot) 2009

Samuelson, Paul (1964): “Economics. An Introductory Analysis.” 6th ed. New York u.a. (McGraw- Hill). Deutsch als 2.Auflage mit dem Titel: Volkswirtschaftslehre. Köln (Bundverlag)