A.V. Keynes: Kein Inflationist und kein Anhänger von Planwirtschaft

Keynes ist vielfach missverstanden und fehlinterpretiert worden. Zwei solcher Fehleinschätzungen seien hier thematisiert.

 

A.IV.1 Keynes: Kein Inflationist

Von Peter Spahn, Universität Hohenheim, mit Aktualisierungen von Jürgen Kromphardt

Die Tatsache, dass sich Keynes in der „General Theory“ mit dem Thema „Inflation“ nicht beschäftigt, ist immer wieder dahingehend missverstanden werden, Keynes habe dem Problem der Inflation keine Bedeutung beigemessen. In der „General Theory“ spielte dieses Problem jedoch nur deswegen keine Rolle, weil Keynes dieses Buch vor dem Hintergrund der im Herbst 1929 ausgebrochenen Weltwirtschaftskrise schrieb; während dieser Krise sanken weltweit Löhne und Preise (siehe dazu die nachstehende Unterrubrik „Weltwirtschaftskrise“ in der Hauptrubrik „The General Theory“). Deflation und nicht Inflation war das aktuelle Problem.

 

Für andere Zeiten betonte Keynes durchaus andere Ziele und Prioritäten. So setzte sich Keynes in seinem „Tract on Monetary Reform“ (1923) (siehe dazu Monographie Nr.5 in der Rubrik A.II) für die Preisstabilität als wirtschaftspolitisches Ziel ein. Diese Forderung war zu ihrer Zeit vor allem deshalb revolutionär, weil sie das Primat des externen Gleichgewichts, d.h. die unbedingte Konstanz des Wechselkurses, in Frage stellte. Andererseits wies die Entwicklung des Preisniveaus keinen anhaltenden Trend auf. Über fast 300 Jahre war das Preisniveau etwa in England abwechselnd gestiegen und gefallen und dabei im Durchschnitt praktisch konstant geblieben! Aber Keynes ging über eine bloße Abwägung des stabilitätspolitischen Trade-off zwischen Wechselkurs- und Preisstabilität hinaus, indem er die wohlfahrts- und verteilungspolitischen Implikationen einer anhaltenden Verletzung des Geldwertziels in den Vordergrund rückte. Es bedurfte keiner „monetaristischen Konterrevolution“, um die volkswirtschaftlichen Kosten der Inflation zu verstehen.
Als weiteres Beispiel sei Keynes’ Reaktion auf die Inflationsgefahren genannt, die in Großbritannien ab Beginn des 2.Weltkriegs auftraten, nachdem durch Rüstungsausgaben und Mobilisierung wehrfähiger Männer praktisch Vollbeschäftigung erreicht war. Sofort formulierte Keynes einen Vorschlag, wie der Krieg so finanziert werden könne, dass Inflation vermieden wird kann („How to Pay für the War“ – siehe Monographie Nr. 14).

 

Die säkulare schleichende Inflation entsteht erst in der Nachkriegszeit, also nach Keynes’ Tod 1946. Erst in dieser Zeit konnte Keynes in der Öffentlichkeit zuweilen als Prophet einer wirtschaftspolitisch garantierbaren Vollbeschäftigung ohne Beachtung des Ziels der Preisstabilität missverstanden werden. Jedoch war seine analytische Botschaft eine andere: Das Vollbeschäftigungsgleichgewicht ist bei realistischen Marktkonstellationen vermutlich nicht stabil, möglicherweise nicht einmal existent. Auf jeden Fall hätte Keynes stets beide Ziele, „hohe Beschäftigung“ und „Preisstabilität“ für wichtig erachtet.

 

Durch das Verhalten der Anbieter (siehe dazu Unterrubrik „Keynesianische Inflationstheorien“ in der Rubrik „Weiterentwicklung des Keynesianismus“) verbanden sich in der Nachkriegszeit schleichende Inflation und hohe Beschäftigung. Es war daher eine tragische Ironie der Keynes’schen Revolution, dass die Abschaffung der Rolle des „barbarischen Goldes“ in der Währungspolitik im Interesse einer beschäftigungspolitischen Autonomie schließlich in eine Stabilisierungsstrategie mündete, die ein substantielles Niveau der Arbeitslosigkeit aufrechterhielt, um den potentiell inflatorischen Lohndruck kontrollieren zu können. Globalisierung, Deregulierung und Bevölkerungswachstum in der 3.Welt markieren jedoch den Übergang zu neuen Marktbedingungen, in denen ein weltweites Überangebot an Arbeit die Wiederkehr eines „klassischen“ Systems bewirkt, das neben Phasen der Preissteigerung auch Phasen der Deflation aufweist. Die Keynes’sche Theorie bietet bislang fast den einzigen umfassenden Ansatz zum Verständnis derartiger Marktprozesse.

 

Mit der Geldmengenentwicklung allein lassen sich diese Prozesse nicht erklären. Jenseits einer trivialen Parallelität von Geldmenge und Preisen bei sehr hohen Inflationsraten gibt es wenige Belege für das Postulat einer Neutralität des Geldes und der Geldpolitik. Die Notenbanken haben mit ihrer Zinspolitik somit auch mittel- und langfristig einen starken Einfluss auf Wachstum und Beschäftigung. In den USA ist dies in der praktischen Geldpolitik sowie in der breiten Öffentlichkeit anerkannt. Das Beispiel der USA zeigt auch, dass eine keynesianisch orientierte Geldpolitik keineswegs eine inflationäre Tendenz aufweisen muss. Denn es geht nicht – wie in den monetaristischen Modellen à la Barro/Gordon unterstellt – darum, eine Überbeschäftigung anzustreben. „Keynesians were concerned with the problem of pushing the economy to its natural rate, not beyond it“ (Frank Hahn).
Der Vorbehalt, Keynes‘ Name stehe für eine insgesamt eher laxe Wirtschaftspolitik, ist unbegründet. Für die Finanzpolitik wird Keynes‘ Erkenntnis, dass Sparpolitik in der Krise gesamtwirtschaftlich schädlich und im Hinblick auf Budgetsanierung kontraproduktiv ist, heute zumeist anerkannt. In langfristiger Perspektive plädierte er für einen ausgeglichenen Staatshaushalt. Möglicherweise wäre er heute einer der Befürworter des europäischen Stabilitätspaktes – unter der Bedingung, dass die europäische Zentralbank neben der Sicherung der Geldwertstabilität auch einen Auftrag zur Konjunkturstabilisierung und Wachstumsförderung erhielte.
Bereits in seiner Schrift „The Economic Consequences of the Peace – Die wirtschaftlichen Konsequenzen des Friedensvertrages“ aus dem Jahr 1919 (Deutsche Übersetzung von 1920, erschienen im Verlag Duncker&Humblot. Eine gekürzte Version ist 2006 im Berenberg-Verlag (Berlin) unter dem Titel „Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles“ veröffentlicht worden, schrieb er (dort S.112f.)):
„Lenin soll erklärt haben, dass der beste Weg zur Vernichtung des kapitalistischen Systems die Vernichtung der Währung sei. Durch fortgesetzte Inflation können Regierungen sich insgeheim und unbeachtet einen wesentlichen Teil des Vermögens ihrer Untertanen aneignen. Auf diese Weise konfiszieren sie nicht nur, sondern sie tun es auch willkürlich, und während viele arm werden, werden einige in der Tat reich. Der Anblick dieser willkürlichen Verschiebung des Reichtums vernichtet nicht nur die Sicherheit, sondern auch das Vertrauen auf die Gerechtigkeit der bestehenden Verteilung des Reichtums. Diejenigen, denen das System über Verdienst und sogar über ihre Erwartung oder ihre Wünsche hinaus Gewinn bringt, werden „Kriegsgewinner“ und sind der Bourgeoisie, die durch die Inflation arm geworden ist, nicht weniger verhasst als dem Proletariat. Je mehr die Inflation wächst und je wilder der wahre Wert der Währung von Monat zu Monat schwankt, desto mehr geraten alle dauernden Beziehungen zwischen Schuldnern und Gläubigern, die die unterste [gemeint ist: elementare – Jürgen Kromphardt]Grundlage des Kapitalismus bilden, in Unordnung, bis sie fast ihre Bedeutung verlieren und die Reichtumsbildung zum Spiel und zur Lotterie wird. Lenin war gewiss im Recht. Es gibt kein feineres und kein sicheres Mittel, die bestehenden Grundlagen der Gesellschaft umzustürzen als die Vernichtung der Währung.“
Einen ausführlichen, detaillierten Überblick über Keynes‘ Einstellung (und Ablehung) von Inflation und Deflation bieten Barens/ Caspari in ihrem Beitrag „Problem oder Instrument der Wirtschaftspolitik? John Maynard Keynes‘ Ansichten zu Inflation, Deflation und Reflation“ in Hagemann/ Kromphardt (Hrsg), Für eine bessere gesamteuropäische Wirtschaftspolitik. Marburg (metropolis) 2015, S. 249-291. Die Autoren zeigen, dass für Keynes die Erhaltung der Preisstabilität ein hohes und zentrales Ziel war.

 

A.IV.2 Keynes: Kein Anhänger von Planwirtschaft

Immer wieder einmal wird Keynes vorgeworfen, er sei ein Anhänger von Planwirtschaf. Als ein Beleg wird dann Keynes` Äußerung in der „General Theory“ (S.378) angeführt, eine „somewhat comprehensive socialisation of investment“ sei notwendig, weil es unwahrscheinlich sei, dass der Einfluss der Geldpolitik auf das Zinsniveau ausreichen werde, ein optimales Investitionsniveau zu erreichen.

 

Insbesondere in Deutschland wurde diese Forderung nach einer „ziemlich umfassenden gesellschaftlichen Steuerung der Investitionen“ wegen der irreführenden Übersetzung als „eine ziemlich umfassende Verstaatlichung der Investitionen“ (dort S.319), die erst in der 10. Auflage von 2006 korrigiert wurde, besonders häufig missverstanden. Dabei stellt Keynes noch in demselben Absatz fest: „Es ist nicht der Besitz der Produktionsmittel, deren Aneignung wichtig für den Staat ist“. Vielmehr müsse der Staat in der Lage sein, die Gesamtmenge der für Investitionen eingesetzten Ressourcen zu bestimmen.

 

Dementsprechend kommen Kröhn/Priddat in Ihrem Beitrag „Keynes war ein Liberaler!“ zu: Ingo Pies/Martin Leschke (Herausgeber), John Maynard Keynes` Gesellschaftstheorie, Tübingen, Mohr, S.87 zu dem Schluss, es wäre grundlegend falsch, Keynes planwirtschaftliche Tendenzen zu unterstellen.