E.IV. Keynesianische Verteilungstheorien

1. Kreislauftheoretische Erklärung der Einkommensverteilung

Keynes hob wiederholt hervor, dass die Konsumgüternachfrage nicht nur von der Höhe des verfügbaren Einkommens abhängt, sondern auch von dessen Verteilung auf Haushalte mit hohen und mit niedrigen Einkommen, da diese sehr unterschiedliche Sparquoten haben. Er formulierte aber keine Theorie, um diese Verteilung zu erklären.

Diese Lücke versuchte Nicholas Kaldor (1955/56) zu schließen. Seine Verteilungstheorie ist keynesianisch, da sie auf Kreislaufzusammenhänge zurückgreift und das Modell zu einer Ver-teilung tendiert, bei der gesamtwirtschaftliche Investitionen und Ersparnisse übereinstimmen. Er konnte sich bei der Entwicklung seiner Theorie auf Keynes‘ Überlegungen über die Kreis-laufbestimmung der Gewinne stützen, die sich in Keynes‘ „Treatise on Money“ aus dem Jahre 1930 finden (siehe zu dieser die Nr. 9 in der Rubrik „Monographien“). Dort hatte Keynes ab-geleitet, dass bei einer Sparquote der Arbeitnehmer von Null alle Ausgaben der Unternehmen, ob für ihren Konsum (CU) oder für Investitionen, wieder an die Unternehmen als Gruppe zu-rückfließen; denn die Arbeitnehmer leiten das gesamte Lohneinkommen (L), das sie erzielen, wieder als Konsumausgaben (CL) an den Unternehmenssektor zurück. Daher sind die Gewin-ne der Unternehmen gleich ihren Gesamtausgaben abzüglich der Lohnzahlungen: Da Y = CU + CL + I und CL = L, folgt für den Gewinn der Unternehmen:

 

gleichung1

(1)

Keynes hatte dieses Ergebnis aus Unternehmerperspektive als „Witwenkrug-Theorem“ bezeichnet, in Anspielung auf das Märchen von der Witwe, deren Krug nie leer wurde.

Kaldor entwickelte aus diesem Theorem eine Verteilungstheorie, indem er realistischerweise für beide sozialen Gruppen annahm, dass sie eine positive Sparquote haben, wobei die Spar-quote der Unternehmen (sU) deutlich größer ist als die Sparquote der Arbeitnehmer (sA). Unter diesen Annahmen lässt sich aus Gleichung (1) ableiten (s. dazu Kromphardt, 1993, S. 106 f.), dass es nur eine Gewinnquote (GU/Y) gibt, bei der gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht herrscht, in dem geplante Investitionen und Ersparnis übereinstimmen:

gleichung2

(2)

Diese Gewinnquote ist also abhängig von der exogenen Investitionsquote und den Sparquoten der beiden Gruppen von Einkommensbeziehern. Sie stellt sich ein, wenn der Multiplikator-prozess funktioniert und zum Ausgleich von Investitionen und Ersparnissen führt. Bei dieser Gleichung ist schon berücksichtigt, dass die Arbeitnehmer bei positiver Sparquote Vermögen bilden und Vermögenseinkommen beziehen. Dies hatte Kaldor zunächst nicht beachtet, aber Pasinetti (1962) hat diese Lücke geschlossen.

Kaldor hat seine Theorie für eine Vollbeschäftigungs-Situation formuliert. (Dies muss man berücksichtigen, wenn man Kaldors Theorie in Harcourt (2006) im Kapitel 2 (S. 6-10) nach-liest). Dann ergibt sich der folgende Prozess: Wenn bei Vollbeschäftigung die Nachfrage das Angebot übersteigt (also I > S ist), dann können die Unternehmen die Nachfrage nicht durch zusätzliche Produktion befriedigen; sie können nur die Preise erhöhen. Dadurch steigen – so-fern die Löhne konstant bleiben oder weniger ansteigen als die Preise – die Gewinne der Un-ternehmen, während die Lohnsumme konstant bleibt oder sich langsamer erhöht als die Ge-winne der Unternehmen. Damit ändert sich die Gewinnquote. Ein neues gesamtwirtschaftli-ches Gleichgewicht wird erreicht, sobald die reale Nachfrage insgesamt wieder dem Angebot (das sich bei Vollbeschäftigung nicht ändern kann) entspricht, indem der Nachfrageüber-schuss reduziert wird, weil durch die abnehmenden Realeinkommen der Arbeitnehmer, deren Konsumquote höher ist als jene der Unternehmen, der Konsum real zurückgeht.

Besteht dagegen in der Ausgangssituation eine Nachfragelücke, so kann der Prozess in umge-kehrter Richtung verlaufen. Das setzt aber voraus, dass die Unternehmen ihre Preise senken. Tun sie das nicht, entsteht ein kontraktiver Multiplikatorprozess, der bei konstanter Investiti-onsquote kein Ende findet.

Bei Unterbeschäftigung verläuft der Anpassungsprozess an das Gleichgewicht in zwei Stufen. Zunächst erhöhen die Unternehmen bei einem Nachfrageüberschuss die produzierten Men-gen, ohne dass sich die Verteilung ändert. Je mehr sich die Volkswirtschaft dadurch der Voll-beschäftigung annähert, desto häufiger werden Unternehmen auch die Preise erhöhen; es be-ginnt die zweite Stufe, in der sich – wie bei Vollbeschäftigung – die Einkommensverteilung ändert.

Im Falle einer Nachfragelücke läuft der kontraktive Prozess so ab, wie in der Ausgangssitua-tion der Vollbeschäftigung in dem Falle, dass die Unternehmen ihre Preise nicht senken. Der Prozess führt also in beiden Fällen nicht notwendigerweise zum Gleichgewicht.

Problematisch ist bei Kaldors Theorie außerdem:
a) Die Investitionsquote wird als exogen angenommen; die Unternehmen investieren immer einen konstanten Teil der gesamtwirtschaftlichen Produktion.
b) Die sozialen Gruppen akzeptieren die Einkommensverteilung, die sich aus den Kreis-laufzusammenhängen ergibt.

Die Exogenität der Investitionsquote bezeichnet Kaldor selbst als „critical assumption“ (1955/56, S.231). Dem zweiten Problem versucht Kaldor dadurch Rechnung zu tragen, dass er den Geltungsbereich seiner Verteilungstheorie auf einen mittleren Bereich der Gewinnquo-te einschränkt (siehe dazu Kromphardt, 1993, S. 104 ff., insb. S. 109) und dadurch extreme Ausschläge ausschließt.

Kaldor wendet sich mit seiner Verteilungserklärung vor allem gegen die neoklassische, pro-duktionstheoretisch fundierte Verteilungstheorie. Nach dieser Theorie bestimmt die gesamt-wirtschaftliche Produktionsfunktion mittels der technisch bestimmten Produktionselastizitäten von Arbeit und Kapital die Verteilung des Einkommens auf Arbeitskräfte und Kapitalgeber. Die Einkommensverteilung erscheint also technisch determiniert; sie ist nicht von Marktposi-tionen beeinflusst und damit steuernden Eingriffen entzogen. Diese Erklärung gilt jedoch nur bei vollständiger Konkurrenz, bei der es keinen eigentlichen Unternehmergewinn gibt (d.h. einen Gewinn, der über die Verzinsung des eingesetzten Kapitals zum Marktzinssatz hinaus-geht). Sie ist daher für moderne Volkswirtschaften irrelevant (siehe dazu Kromphardt, 1993, S. 115-118; Preiser, 1953), in denen die Unternehmen auf praktisch allen Gütermärkten die Möglichkeit (die Marktmacht) haben, ihre Preise oberhalb der Grenzkosten anzusetzen. Das Ausmaß von Marktmacht bestimmt die gesamtwirtschaftliche Einkommensverteilung, wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird.

2. Erklärung der Einkommensverteilung aus der Marktmacht der Unternehmen

Während Kaldors Verteilungstheorie an der Nachfrageseite und den Kreislaufzusammenhän-gen ansetzt, steht bei dieser Erklärung der Einkommensverteilung die Angebotsseite im Vor-dergrund – ein gutes Beispiel für die Bereitschaft der Keynesianer, neben der Nachfrageseite auch die Angebotsseite zu betrachten, wenn dies zu besseren Erkenntnissen führt. Ein geeig-neter Ausgangspunkt, um den Einfluss der Marktmacht auf die gesamtwirtschaftliche Ein-kommensverteilung zu zeigen, ist der Begriff des Monopolgrads, wie ihn schon früh der spä-tere Keynesianer Abba Lerner (1933/34) definierte; er soll die Fähigkeit der Unternehmen messen, den Preis der Güter höher als die Grenzkosten anzusetzen. Zur Erinnerung: Bei voll-ständiger Konkurrenz stimmen Güterpreis und Grenzkosten überein; der Preis spielt sich auf dem Markt in Höhe der Grenzkosten ein und der einzelne Mengenanpasser hat keine Mög-lichkeit, einen höheren Preis zu fordern; die Nachfrager würden zu den konkurrierenden An-bietern abwandern.

Lerner definiert folgerichtig den Monopolgrad μ als

gleichung3

(3)

Je mehr die Marktverhältnisse von der vollständigen Konkurrenz abweichen, desto höher ist dieser Monopolgrad. Die Differenz p – GK stellt den Zuschlag (Z) auf die Grenzkosten (GK) dar. Man kann daher den Monopolgrad umformen zu

 

gleichung4

(4)

Nimmt man nun zur Vereinfachung an, dass die Grenzkosten bis zur Kapazitätsgrenze hori-zontal verlaufen – eine durchaus realitätsnahe Annahme – und damit den variablen Stückkos-ten entsprechen, so ist der Monopolgrad das Ergebnis einer Zuschlagskalkulation auf diese Kosten. Mit der Gleichung (4) hat man eine Theorie zur Erklärung der Einkommensverteilung gefunden; denn die Höhe von Z im Verhältnis zu p bestimmt die Einkommensverteilung. Dies gilt allerdings nur, wenn man die fixen Kosten vernachlässigt. Dann ist Z•X (X entspricht der produzierten Menge an BIP-Einheiten) gleich der Gewinnsumme und p•X = Y gleich dem nominalen Bruttoinlandprodukt. Also gibt μ den Anteil der Gewinne am BIP an.

Berücksichtigt man das Bestehen von fixen Kosten, so sind diese in der Summe Z•X noch enthalten. Dieses unschöne Ergebnis lässt durch die Annahme vermeiden, die Unternehmen bildeten ihre Preise durch einen Zuschlag auf die gesamten Stückkosten. Dann verbleibt Z•X den Unternehmen ungeschmälert als Gewinn, und in Gleichung (4) stehen statt der Grenzkos-ten die gesamten Stückkosten.

Keynes selbst hat sich zur Frage der Preisbildung, der Markformen und der Wettbewerbsin-tensität kaum geäußert. Er beschränkt sich in seiner „General Theory“ auf den Hinweis, er übernehme die Gleichheit von Lohn und physischem Grenzertrag der Arbeit, die sich bei voll-ständiger Konkurrenz ergibt. Diese Gleichheit stehe unter dem Vorbehalt, dass sie „in Über-einstimmung mit gewissen Grundsätzen bei unvollkommenen Wettbewerb und Märkten ver-letzt werden kann“ (Keynes, 1936, S. 5).

Wie diese „gewissen Grundsätze“ lauten, führt Keynes nicht weiter aus. Er hielt das wohl für überflüssig, weil sein Lehrer, Alfred Marshall, dessen Lehrbücher und weiteren Bücher die englischsprachige Ökonomie zu jener Zeit dominierten, sich dazu geäußert hatte. Leijonhuf-vud (2006) hat noch einmal betont, wie sehr Keynes von Marshall beeinflusst war, weswegen ihm zum Beispiel die Vorstellung von Gütermärkten mit vollkommenem Wettbewerb und reinen Mengenanpassern völlig fremd war.

Michael Kalecki (1938) hatte schon vor Kaldor versucht, die Einkommensverteilung über einen Monopolgrad zu erklären. Kalecki (1899-1970) war ein herausragender polnischer Ö-konom, der unabhängig von Keynes viele Kernpunkte der Theorie von Keynes entdeckt hat (siehe dazu Harcourt, 2006, S. 161). 1936 kam er nach Cambridge (England), wo sich eine lange und tiefe Freundschaft mit Joan Robinson entwickelte.

In seiner Monopolgradtheorie unterscheidet er zwischen einer Marktpreisbildung bei Rohstof-fen und einer Preissetzung durch Zuschlagskalkulation. Spätere keynesianische Verteilungs-theorien, die auf Preisbildung durch Zuschlagskalkulation beruhen, haben auf diese Unter-scheidung verzichtet, so zum Beispiel Preiser (1970), der kurz auf Kalecki verweist. Das Hauptproblem der Monopolgradtheorie der Einkommensverteilung besteht darin, die Höhe der Zuschlagssätze und ihre zeitliche Veränderung zu erklären. Die Vermutung liegt nahe, dass die Zuschlagssätze neben den Gegebenheiten auf der Angebotsseite (Marktstruktur, Konkurrenzdruck o.ä.) auch von der Entwicklung der Nachfrage beeinflusst werden. Eine höhere Nachfrage erlaubt es den Unternehmen, weniger Angst davor zu haben, dass Preiser-höhungen zu rückläufigen Nachfragemengen führen.

Die Nachfrageseite kann noch über einen weiteren Zusammenhang ins Spiel kommen, der in keynesianischen Verteilungstheorien ebenfalls thematisiert wird, nämlich über den Zusam-menhang zwischen den erzielten Gewinnen und den daraus ganz oder teilweise finanzierten Investitionen, der allerdings nicht sicher ist; denn höhere erzielte Gewinne sind kein hinrei-chender Grund für höhere Sachinvestitionen, da ohne positive Absatzerwartungen die Unter-nehmen keinen Anlass haben, ihre Produktionskapazitäten zu erweitern; sie stecken ihr Geld dann lieber in Finanzanlagen. Falls dennoch ein positiver Einfluss der Gewinne auf die Inves-titionen auftritt, dann kann hier eine positive Spirale entstehen: Höhere Zuschlagssätze → höhere Gewinne → höhere Investitionen → höhere Nachfrage → höhere Zuschlagssätze. Von daher sind Einkommensverteilung, Investitionen und Wachstum miteinander verknüpft; da-von wird in der keynesianischen Wachstumstheorie (siehe die entsprechende Unterrubrik – noch in Vorbereitung) die Rede sein. Will man diese Verknüpfungen berücksichtigen, erge-ben sich rasch komplizierte Modelle, deren Darstellung den Rahmen dieser Website überstei-gen. Einen Einblick in die Komplexität solcher Modelle gibt die Lektüre des Kapitels 3 sowie die Wiedergabe des Modells von Hahn (1972) in Kapitel 2 von Harcourt (2006).

In der neueren Diskussion ist die Ableitung und ökonometrische Bestimmung von Preisset-zungsgleichungen, die alle die (Lohn-)stückkosten berücksichtigten, immer stärker zu einem Bestandteil der Inflationserklärung geworden, während ihre Auswirkungen auf die Verteilung kaum analysiert werden (siehe die Unterrubrik: Keynesianische Inflationstheorien).

3. Kombination von Kaldor und Kalecki

Kombiniert man Kaleckis Hypothese, wonach die Preise durch eine Zuschlagskalkulation gebildet werden, mit Kaldors Verteilungstheorie, so lässt sich diese auf den Fall der Unterbeschäftigung erweitern. Dies zeigt Wolfgang Scherf in dem anschließend eingestellten Beitrag. Dieser zeigt auch im Rahmen dieser kombinierten Verteilungstheorie, dass Nominallohnerhöhungen, die über den Produktivitätsfortschritt hinausgehen und damit die Lohnstückkosten erhöhen, keine positiven Wirkungen entfalten, wenn letztere von den Unternehmen in den Preisen weitergeben werden. Dies zeigt der folgende Text von Wolfgang Scherf, Uni Gießen.

Zur (Irr-) Relevanz der Kaufkrafttheorie
Wolfgang Scherf (Uni Gießen)

Nach der Kaufkrafttheorie belebt eine Erhöhung der (Nominal-) Löhne die Konsumnachfrage und führt somit in einer unterbeschäftigten Wirtschaft zu einem Anstieg von Produktion und Beschäftigung. Dahinter steht die kaldorianische Hypothese, dass eine Umverteilung des Einkommens zugunsten der Lohnempfänger die Nachfrage verstärkt, weil diese einen größeren Teil ihres Einkommens verausgaben als die Gewinnempfänger.

Im Folgenden wird theoretisch begründet, warum Erhöhungen der Nominallöhne, die nicht zu höheren Reallöhnen führen, sondern in den Preisen weitergewälzt werden, keine positiven Produktions- und Beschäftigungseffekte nach sich ziehen. Die Analyse bedient sich nicht der geläufigen neoklassischen Argumentationsmuster, sondern verwendet ausschließlich Elemente der Verteilungstheorien von Kaldor (1955/56) und Kalecki (1938), die als keynesianische Verteilungstheorien eingestuft werden (Keynes-Gesellschaft, 2012).

Die Einkommensverteilung bei Kaldor

Nach Kaldor (1955/56, 95) lautet die Gleichung für die Gewinnquote in einer geschlossenen Volkswirtschaft ohne Staat:

formel1

Danach ist Anteil der Gewinne (G) am Sozialprodukt (Y) positiv abhängig von der (realen) Investitionsquote (Ir/Yr) und negativ abhängig von den Sparquoten der Arbeitnehmer (sL) und Unternehmer (sG). Der damit korrespondierende Anteil der Löhne (L) lautet:

 

formel2

Die Kaldor-Formel (2) beschreibt die Verteilung eines real gegebenen Sozialprodukts. Die Lohnquote ist determiniert durch die Verwendungsstruktur des Sozialprodukts, die in der Investitionsquote zum Ausdruck kommt, und durch das Sparverhalten der Arbeitnehmer sowie der Unternehmer. Die Höhe der Nominallöhne spielt dagegen keine Rolle.

Dies wird deutlich, wenn man die Lohnquote in ihre Faktoren zerlegt. Sie entspricht definitionsgemäß dem Produkt aus Lohnsatz (w) und Beschäftigung (A) dividiert durch das Produkt aus Preisniveau (p) und Produktionsmenge (Yr) bzw. der Relation von Reallohn (w/p) und Arbeitsproduktivität (Yr/A):

 

formel3

Nominallohnerhöhungen und die daraus resultierende zusätzliche Konsumnachfrage werden im Kaldor-Modell durch einen entsprechenden Anstieg des Preisniveaus kompensiert. Bei gegebener Arbeitsproduktivität pegelt sich der Reallohn und damit die gleichgewichtige Lohnquote so ein, dass die geplanten Ersparnisse mit den geplanten Investitionen übereinstimmen. Folglich kann der Anteil der Arbeitnehmer am Sozialprodukt durch Nominallohnpolitik nicht verändert werden. Ein Anstieg der Lohnquote ist nur durch Lohnverwendungspolitik erreichbar, also mittels einer Erhöhung der Arbeitnehmersparquote (Investivlohn, investive Gewinnbeteiligung).

Kaufkraft, Produktion und Beschäftigung

Nach der Kaufkrafttheorie sorgt ein Anstieg der Lohnquote für mehr Produktion und Beschäftigung. Lässt sich dieser Zusammenhang aus dem Kaldor-Modell ableiten, wenn man die Annahme eines gegebenen Sozialprodukts aufgibt? Schließlich kann die Koordination von Sparen und Investieren in einer unterbeschäftigten Wirtschaft nicht nur kaldorianisch über die Einkommensverteilung, sondern auch keynesianisch über das Einkommen selbst erfolgen.

Bei veränderlicher Höhe der Produktion mutiert Gleichung (2) für die Lohnquote zu einem positiven Zusammenhang zwischen Lohnquote und Sozialprodukt. Ein Anstieg der Produktion ist bei real konstanten Investitionen mit einer höheren Lohnquote verbunden. Nur die Verteilungsänderung zugunsten der konsumfreudigeren Arbeitnehmer kann den realen Mehrkonsum bewirken, der die wachsende Differenz zwischen Investitionen und Sozialprodukt überbrückt.

Das scheint für die Kaufkrafttheorie zu sprechen. Bei flexiblem Sozialprodukt erhält das Kaldor-Modell aber einen Freiheitsgrad und kann somit allein weder das Einkommen, noch seine Verteilung bestimmen. Vielmehr konkurriert die kaldorianische Lesart, nach der die Verteilung bei fixem Sozialprodukt bestimmt werden kann, mit der keynesianischen Sicht, nach der das Sozialprodukt bei konstanter Verteilung von den autonomen Investitionen und dem Multiplikator abhängt. Dieses Resultat ergibt sich durch Auflösen von Gleichung (2) nach Yr:

 

formel4

Der Multiplikator entspricht dabei dem Kehrwert der marginalen Sparquote. Letztere ist negativ mit der Lohnquote verknüpft. Eine keynesianische Sparfunktion, in der die marginale Sparquote trotz ungleicher gruppenspezifischer Sparneigungen fixiert ist, impliziert also eine konstante Einkommensverteilung.

Ohne eine weitere Brücke zwischen Einkommen und Verteilung lässt sich die Unbestimmtheit des kaldorianischen wie des keynesianischen Ansatzes nicht auflösen. Eine solche Verbindung kann in der Verteilungstheorie von Kalecki gesehen werden, die eine angebotsseitige Bestimmung der Verteilung aus dem Preissetzungsverhalten der Unternehmen liefert.

Kaldor plus Kalecki gleich Keynes

Prinzipiell argumentiert die von Kalecki (1938) begründete Monopolgradtheorie mit einer kostenbezogenen Preissetzung der Unternehmen. Bei Beschränkung auf die Lohnkosten gilt für das Preisniveau im einfachsten Fall folgende Zuschlagskalkulation:

 

formel5

Der Gewinnzuschlag z auf die Lohnstückkosten bringt die Marktmacht der Unternehmen zum Ausdruck. Daraus resultiert die angebotsseitig bestimmte Lohnquote:

 

formel6

Gleichsetzen mit der nachfrageseitig bestimmten Lohnquote von Kaldor (2) führt zu einem keynesianischen Resultat:

formel7

Der Einkommensmultiplikator enthält die divergenten gruppenspezifischen Sparquoten von Kaldor und den Monopolgrad von Kalecki in Form des Gewinnzuschlags. Letzterer fixiert jedoch die Verteilung und beseitigt die Flexibilität der Lohnquote. Kaldors Überlegungen werden darauf reduziert, dass der keynesianische Multiplikator von den unterschiedlichen gruppenspezifischen Sparneigungen abhängt. Die Nachfragefaktoren bestimmen aber nicht die Verteilung, sondern die Höhe des Sozialprodukts: Kaldor plus Kalecki gleich Keynes.

Das Sozialprodukt kann gemäß Gleichung (7) steigen,

  • wenn die Investitionen steigen,
  • wenn die Sparneigung der Arbeitnehmer sinkt,
  • wenn die Sparneigung der Unternehmer sinkt,
  • wenn der Gewinnzuschlag sinkt.

 

Die Höhe des Lohnsatzes spielt auch hier keine Rolle, solange es den Unternehmen gelingt, die Preise proportional zum Lohnsatz zu erhöhen und damit den Gewinnzuschlag zu stabilisieren. Nur eine faktische Reduktion des lohnbezogenen Gewinnzuschlags könnte die Verschiebung der Einkommensverteilung zugunsten der Arbeitnehmer bewirken, deren Folge dann ein Konsumnachfragezuwachs und ein Anstieg von Produktion und Beschäftigung wäre.

 

Fazit

Die Kaufkrafttheorie stellt den Nachfrageeffekt der Löhne einseitig in den Vordergrund. Sie zeigt aber nicht, wie der Anstieg der Lohnquote herbeigeführt werden kann, der für den expansiven Nachfrageeffekt verantwortlich ist. Nominallohnerhöhungen, die über den Produktivitätsfortschritt hinausgehen, reichen hierfür nicht aus, denn sie werden – bei fixem Monopolgrad – durch entsprechende Preissteigerungen kompensiert. Der Nachfrageeffekt der Löhne eröffnet den Unternehmen den erforderlichen Überwälzungsspielraum, schafft aber keinen realen Kaufkraft- und Nachfragezuwachs.

Letztlich basiert die Kaufkrafttheorie auf der unrealistischen Annahme, dass die Unternehmer nur auf den Nachfrageeffekt, nicht aber auf den parallelen Kosteneffekt der Löhne reagieren. Berücksichtigt man Kosten- und Nachfrageeffekt, so spricht die Gesamtwirkung der Löhne für eine produktivitätsbezogene Lohnpolitik, die inflationäre Impulse vermeidet. Über den Produktivitätsfortschritt hinausgehende Nominallohnerhöhungen vergrößern das Kosten- und Preisniveau. Sie senken die internationale Wettbewerbsfähigkeit und provozieren eine restriktive Geldpolitik. Damit verbundene Zinssteigerungen gehen tendenziell zulasten der privaten Investitionen und des Sozialprodukts. Die Kaufkrafttheorie liefert also auch aus keynesianischer Sicht keine Basis für eine expansive Lohnpolitik, die bestenfalls neutrale und ansonsten negative Wirkungen auf Produktion und Beschäftigung hat.

Literatur (Scherf)

Kaldor, Nicholas (1955/56), Alternative Theories of Distribution, The Review of Economic Studies, Vol. 23, 83-100.
Kalecki, Michael (1938), The Determinants of Distribution of the National Income, Econometrica, Vol. 6, 97-112.
Keynes-Gesellschaft (2012), Keynesianische Verteilungstheorien, URL: https://goo.gl/kkP06, Stand: 11.09.2012.
Scherf, Wolfgang (2000), Orientierungsgrößen und gesamtwirtschaftliche Wirkungen der Nominallohnpolitik, WISU, Heft 10, 1374-1390.

2012 © Wolfgang Scherf

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Literatur

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Kaldor, Nicholas (1955/56), Alternative Theories of Distribution. “The Review of Economic Studies”. Vol.23 , S.83-100. Deutsch in: Schlicht (1976), S. 101-128.

Kalecki, Michael (1938), The Determinants of Distribution of the National Income. “Econometrica”, Vol.6, S.97-112, Wiederabgedruckt in verbesserter Version in: Kalecki, Michael, Selected Essay on the Dynamics of the Capitalist Economy (1933-1970). Cambridge (UP) 1971, S. 62-77.

Keynes, John Maynard (1930), A Treatise on Money. London (Macmillan). Deutsch: Vom Gelde. Berlin (Duncker & Humboldt) 1931.

Keynes, John Maynard (1936), The General Theory of Employment, Interest and Money. London – New York (Macmillan – St. Martin’s Press). Deutsch: Allgemeine Theorie der Be-schäftigung, des Zinses und des Geldes. 10. verbesserte Auflage Berlin (Duncker & Hum-boldt) 2006.

Kromphardt, Jürgen (1993), Wachstum und Konjunktur. Grundlagen der Erklärung und Steu-erung des Wachstumsprozesses. 3.Auflage, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).

Leijonhufvud, Axel (2006), Keynes as a Marshallian, In: Backhaus, Roger/Bateman, Bradley (Hrsg.), The Cambridge Companion to Keynes. Cambridge (U.P.).

Lerner, Abba(1933/34), The Concept of Monopoly and the Measurement of Monopoly Power “The Review of Economic Studies”, Vol. I, S. 157-175.

Pasinetti, Luigi (1962), Rate of Profit and Income Distribution in Relation to the Rate of Economic Growth. “The Review of Economic Studies”. Vol.29, S.267-279. Deutsch in: E. Schlicht (1976), S. 205-222.

Preiser, Erich (1953), Erkenntniswert und Grenzen der Grenzproduktivitätstheorie. „Schwei-zerische Zeitschrift für Volkswirtschaftslehre und Statistik“, Band 89. Wiedergabedruck in: Erich Preiser, Bildung und Verteilung des Volkseinkommens. 4.Auflage, Göttingen (Vanden-hoeck & Ruprecht) 1970, S. 265-289.

Preiser, Erich (1970), Wachstum und Einkommensverteilung, 3.Auflage, Heidelberg (Carl Winter-Universitätsverlag).

Schlicht, Ekkehard (1976), Einführung in die Verteilungstheorie. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt).