B.VIII. Keynes‘ Theorie und Keynesianismus
Das in der Rubrik B.V dargestellte Vorgehen von Hicks (1937), den Kern der revolutionären Theorie von Keynes (1936) korrekt darzustellen, sie zugleich aber als „Theorie der Depression“ einzuordnen (ohne dies belegen zu können), kam all‘ denen entgegen, die die wirtschaftspolitische Botschaft von Keynes missfiel. Es fand daher viele Nachahmer und Nachfolger, die die Theorie von Keynes verfälschten, aber den Begriff „keynesianisch“ für ihre Version beanspruchten.
Besonders umstritten war von Anbeginn die Erkenntnis von Keynes, dass selbst bei flexiblen Preisen und Löhnen und ausgeglichenem Güter- und Geldmarkt der Arbeitsmarkt sich im Ungleichgewicht befinden kann. Daher war es ein Tiefschlag gegen diese Aussage, dass Modigliani (1944) den keynesianischen Güter- und Geldmarkt um einen neoklassischen Arbeitsmarkt erweiterte, der das System dominierte und von dem die Höhe von Produktion und Beschäftigung bestimmt wurde. In diesem erweiterten System führen Lohnsenkungen dann stet zu mehr Beschäftigung. Obwohl das Ergebnis im Gegensatz zur Keynes’schen Theorie steht, sprachen Modigliani (1944) und Smith (1956), der dieses Konstrukt in Graphiken umsetzte, stets vom „Keynesian System“. Der Beitrag von Smith fand seinerzeit so viel Aufmerksamkeit, dass er gleich in zwei Readings-Bände aufgenommen wurde. Wesentlich treffender war dann die von Samuelson in seinem Lehrbuch gewählte Bezeichnung dieses Ergebnisses als Neoklassische Synthese. Neoklassische Vereinnahmung wäre noch passender gewesen.
Diese neoklassische Variante des Keynesianismus wurde lange Zeit weltweit überwiegend mit Keynes’scher Theorie gleichgesetzt, bis Leijonhufvud mit seinem Buch „Keynesian Economics and the Economics of Keynes“ (1968) aufdeckte, dass erstere mit letzteren nur wenig zu tun hatte. Dessen ungeachtet erwähnen z.B. Felderer/Homburg (2005) in der 9. Auflage ihres in Deutschland weit verbreiteten Lehrbuch Keynes‘ eigentliche Theorie nur ganz nebenbei.
Aufgrund des Missbrauches des Begriffs „Keynesianismus“ haben es viele Ökonomen, die die „Keynes’sche Theorie“ vertreten, vorgezogen, ihre theoretische Basis als „Post-Keynesianismus“ zu bezeichnen, um sich von dem „verbrannten“ Wort „Keynesianismus“ abzusetzen. Viele Autoren sprechen auch von ihrem kaleckianischen Ansatz; denn Kalecki hatte die Grundzüge der Keynes’schen Theorie zeitgleich entdeckt und so eindeutig dargestellt, dass eine neoklassische Vereinnahmung nicht möglich ist.
Laut Hein (2005, S.69 f.) sind diese Grundzüge:
Dauerhafte Unterauslastung von Sachkapital und Arbeit
Preisbildung durch Mark-up
Die Investitionen bestimmen die Höhe der Ersparnis, nicht umgekehrt
Dementsprechend erörtert Hein (1998, S. 101) makroökonomische Probleme „aus post-keynesianischer bzw. kaleckianischer Perspektive“.
Die Postkeynesianer bilden keine homogene Gruppe, sondern diskutieren heftig untereinander. Auch deswegen ist der Begriff „Postkeynesianer“ unscharf. Wie sehr, sieht man u.a. daran, dass Peter Spahn in seinem Buch „Streit um die Makroökonomie“ einen „Stammbaum der Makrotheorie“ (2016, S. 28) aufzeichnet und aus dem Postkeynesianismus in Verbindung mit der Neoklassischen Synthese die „New Keynesian Economics (NKE)“ (s. zu diesen die Rubrik E.I auf dieser Website) entstehen lässt, obwohl beide Richtungen sich völlig konträr gegenüberstehen. [Für weitere Verwirrung sorgt, dass Spahn die NKE als „Neokeynesianische Synthese“ bezeichnet, was zwar inhaltlich zutreffend, aber völlig ungebräuchlich ist.]
Leider ist es den Anhängern der Theorie von Keynes nicht gelungen, die Begriffe „Keynesianismus“ und „Keynesianer“ für sich zu reservieren. Vielmehr bezeichnen sich insbesondere Vertreter des Neokeynesianismus (siehe dazu E.I.4) gerne als Keynesianer. Sie sind jedoch keine Keynesianer, genauso wie die Neoklassiker keine Klassiker sind (siehe dazu die Rubrik C.I), da sie in zentralen Punkten eine andere Position vertreten und unterschiedliche Lösungsansätze verfolgen. So sind die Neokeynesianer der Ansicht, bei flexiblen Preisen würde das marktwirtschaftliche System stets zur Vollbeschäftigung tendieren,, wenn es keine Rigiditäten gäbe. Andererseits spielt bei ihnen die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zumindest kurzfristig eine Rolle, weil sie die bestehenden Rigiditäten nicht bestreiten, sondern sogar versuchen, ihre Existenz zu erklären. Dies unterscheidet sie von den Neoklassikern (siehe zu diesen die Hauptrubrik C).
Literatur
Felderer, Beernhard / Homburg, Stefan (2005), Makroökonomik und Neue Makroökonomik. Berlin etc. (Springer). 9. Aufl. (2005)
Hein, Eckhard (1998), Geldpolitik, funktionale Einkommensverteilung und Kapitalakkumulation: Theoretische und empirische Aspekte aus postkeynesianischer Sicht. In: Arne Heise, Hrsg. Renaissance der Makroökonomik. Marburg (Metropolis)
Hein, Eckhard (2005), Löhne, Verteilung und Wachstum. Ansätze in der Tradition Michael Kaleckis. In: Hein, Eckhard / Heiso, Anne / Truger, Achim. Löhne, Beschäftigung, Verteilung und Wachstum. Makroökonomische Analysen. Marburg (Metropolis)
Leijonhufvud, Axel (1968), On Keynesian Economics and the Economics of Keynes. A Study in Monetary Theory. New York/Oxford (Oxford UP). Dt: Über Keynes und den Keynesianismus. Eine Studie zur monetären Theorie. Köln (Kiepenheuer und Witsch) 1973
Modigliani, Franco (1944), Liquidity Preference and the Theory of Interest and Money. “Econometrica”, Vol.12, S. 45-88. Wiederabgedruckt in: Friedrich Lutz / Lloyd Mints (Hrsg.), Readings in Money Theory, London (Allen & Unwin) 1952. S. 186-239
Smith, Warren (1956), A Graphical Exposition of the Complete Keynesian System. “The Southern Economic Jorunal”, Vol. 23. Wiederabgedruckt in: W. Smith, R. Teigen (Hrsg.), Readings in Money, National Income and Stabilization Policy. Homewood (Ill) 1965 sowie in M. Mueller, (Hrsg.), Readings in Macroeconomics. London etc. 1966. S. 37-45
Spahn, Peter (2016), Streit um die Makroökonomie. Theoriegeschichtliche Debatten von Wicksell bis Woodford. Marburg (Metropolis)