B.V. The General Theory – Ihre Interpretation durch Hicks (1937)
Das Hauptwerk von Keynes, die „General Theory of Employment, Interest and Money“ aus dem Jahr 1936, fand sogleich nach seinem Erscheinen große Beachtung, ja, es wurde von manchen Ökonomen sehnsüchtig erwartet. Im „Quarterly Journal of Economics“ wurde es bereits im Erscheinungsjahr von vier Ökonomen besprochen; auf die Kritik antwortete Keynes (1937a) mit seinem Aufsatz „The General Theory of Employment“. Auch John Hicks veröffentlichte 1936 einen langen verständnisvollen Besprechungsaufsatz (Hicks, 1936). Den nachhaltigsten und zugleich zwiespältigsten Einfluss hatte jedoch sein Artikel „Mr. Keynes and the ‚Classics’: A Suggested Interpretation“ in der Zeitschrift ‚Econometrica’ (1937). Mit freundlicher Genehmigung der „Econometric Society“ wird dieser klassische Artikel hier mit einigen Kürzungen reproduziert.
„Mr. Keynes and the ‚Classics’: A Suggested Interpretation“
Dieser Aufsatz ist in deutscher Übersetzung zu finden in: Barens, Ingo/Caspari, Volker (Hrsg.), Das IS-LM-Modell. Entstehung und Wandel. Marburg (Metropolis) 1994.
Die Gegenüberstellung von „Mr. Keynes“ und „the Classics“ bezieht sich auf das Vorgehen von Keynes, alle Ökonomen, die in der neoklassischen Tradition schreiben, als „Klassiker“ zu bezeichnen, darunter auch Arthur Pigou und sein damals erst kurz zuvor erschienenes Buch „The Theory of Unemployment“ (London, 1933). Hicks konfrontiert nun diese „klassische Ökonomie“ mit der Theorie von Keynes, indem er beide in Gleichungen fasst und für ihre graphische Darstellung das berühmte IS/LM-Diagramm entwickelt, das man heute – mit modifiziertem theoretischen Hintergrund – in allen Lehrbüchern der Makroökonomie findet. Meade (1936/37) hat zu gleicher Zeit den Kern der „General Theory“ ebenfalls als Gleichungssystem formuliert, aber ohne graphische Illustration.
Mit dieser Darstellung reduziert Hicks die Theorie von Keynes zumindest graphisch auf eine kurzfristige statische Gleichgewichtsanalyse. Die für Keynes so wichtige Instabilität der Investitionstätigkeit und die zentrale Rolle der (unsicheren) Erwartungen für die wirtschaftliche Entwicklung bleiben außen vor. Mit dem IS/LM-Diagramm bestimmt Hicks diejenige Kombination von Zinssatz und Volkseinkommen, bei der auf dem Gütermarkt (bzw. bei Hicks auf dem Konsumgüter- und auf dem Investitionsgütermarkt) und auf dem Geldmarkt Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage herrscht. Auf dem Gütermarkt besteht Gleichgewicht, wenn die zinsabhängigen Investitionen genau der einkommensabhängigen Ersparnis entsprechen; auf dem Geldmarkt wird das Gleichgewicht bei Übereinstimmung der vorgegebenen Geldmenge (des „Geldangebots“) mit der vom Zins und vom Einkommen abhängigen gewünschten Kassenhaltung („Nachfrage“ nach Geld) erreicht. Der Arbeitsmarkt bleibt außer Betracht.
Die wichtigste Neuerung von Keynes besteht für Hicks (s. dort Abschnitt III) in der Analyse der Geldnachfrage (der Nachfrage nach Liquidität), die sich im gekrümmten Verlauf der LM-Kurve niederschlägt: Diese verläuft bei sehr niedrigem Zinssatz (i) und Einkommen (Y) fast horizontal, bei sehr hohem Einkommen und Zinssatz dagegen fast vertikal. Bei hohen Werten von Y und i wird der gesamte vorhandene Geldbestand zur Finanzierung der Transaktionen benötigt. Zusätzliche Güternachfrage führt dann nicht zu mehr Produktion, sondern nur zu höherem Zinssatz. Dies ist der klassische Bereich. Im anderen Extrembereich ist es umgekehrt: Eine Erhöhung der Geldmenge verändert den Zinssatz nicht; zusätzliche Güternachfrage dagegen führt zu mehr Produktion und Beschäftigung, ohne dass der Zinssatz steigt: „We are completely out of touch with the classical world“, betont Hicks.
Den gesamten mittleren Bereich, in dem eine höhere Nachfrage sowohl die Produktion als auch den Zinssatz ansteigen lässt, während eine höhere Geldmenge zu einem niedrigeren Zinssatz und damit zu höherer Produktion führt, weist Hicks nun allerdings dem klassischen Bereich zu („the classical theory will be a good approximation“), so dass für Keynes nur der Extrembereich der horizontalen LM-Linie übrig bleibt. Im Gegensatz dazu hatte Keynes in seinem Buch betont, in der Regel sei die Beziehung zwischen Geldnachfrage und Zinssatz so, dass der Zinssatz fällt, wenn die Geldmenge steigt (Keynes, 1936, S. 171). Der Bereich der horizontalen LM-Linie dagegen stelle die Ausnahme dar: „But whilst this limiting case might become practically important in the future, I know of no example of it hitherto“ (ebenda, S. 207). Die dagegen verstoßende Zuordnung des Normalbereichs der LM-Kurve zur „Klassik“ veranlasst Hicks, den Abschnitt III mit dem falschen, aber berühmt gewordenen Satz zu schließen: “So the General Theory of Employment is the Economics of Depression“ (S. 155).
Der Beitrag von Hicks zur Verbreitung der Theorie von Keynes ist daher zwiespältig. Einerseits hat das von ihm entwickelte IS/LM-Diagramm erheblich dabei geholfen, aus dem schwierigen Buch von Keynes den statischen Kern seiner Theorie herauszuarbeiten und verständlich zu machen. Andererseits hat er eine Grundlage für die Keynes verfälschende Tendenz gelegt, dessen Theorie auf den empirisch wenig relevanten Extremfall der waagerechten LM-Kurve (der Liquiditätsfalle) zu reduzieren. Dies hat dann später zu der verbreiteten, aber schon mit dem Titel der „General Theory“ nicht zu vereinbarenden Praxis geführt, Keynes zu unterstellen, für ihn sei nur die Fiskalpolitik relevant, da die Geldpolitik im Bereich der Liquiditätsfalle wirkungslos bleibt, und anschließend die Keynesianer als „Fiskalisten“ abzustempeln.
Außerdem hat Hicks wichtige Aspekte beim IS/LM-Diagramm ausgeklammert. So betonte Keynes (1937b) in seiner Antwort auf die vier im Quarterly Journal of Economics erschienenen Rezensionen, er biete eine theoretische Erklärung, weshalb Produktion und Beschäftigung so starken konjunkturellen Schwankungen ausgeliefert sind, und er weiche von der orthodoxen Theorie darin ab, dass diese ein Wissen über die Zukunft unterstellt, das weit größer ist, als wir es tatsächlich haben, während in seiner Theorie Erwartungen über die unsichere Zukunft eine zentrale Rolle spielen. Beide Punkte, die konjunkturelle Anfälligkeit der Investitionen und die Unsicherheit der Zukunft, treten im IS/LM-Modell allerdings nicht direkt in Erscheinung.
Den Artikel von Hicks hat Keynes seinerzeit nicht öffentlich kommentiert, aber in seinem Brief an Hicks vom 31.3.1937 (in Band XIV der Collected Writings nachzulesen) hat er zwar zunächst (mit britischem Understatement) geschrieben, er habe „really next to nothing to say by way of criticism“ (Bd. XIV, S. 79), dann aber doch zwei wichtige kritische Bemerkungen gemacht. Erstens bestand er darauf, er habe nicht behauptet, eine Erhöhung der Investitionsneigung lasse den Zinssatz unverändert, sondern nur gesagt, der Zinssatz müsse nicht steigen (nämlich nicht in der Liquiditätsfalle) („it is important to insist … that an increase in the inducement to invest need not raise the rate of interest“). Keynes lehnt es also ab, seine Theorie auf den Extremfall der horizontalen LM-Linie zu reduzieren. Zweitens betont er auch hier die Bedeutung der erwarteten Rendite für die Investitionsentscheidungen, während das aktuelle Einkommen für diese Entscheidungen keine wichtige Rolle spiele (Bd. XIV, S. 80f).
Hicks seinerseits ist im Laufe der Zeit immer wieder auf die Theorie von Keynes und auf seinen eigenen „IS/LM“-Artikel zurückgekommen. Dabei standen aber andere Fragen im Vordergrund.
Zitierte und weiterführende Literatur:
Barens, Ingo (2018), Hicks über Keynes und die Klassiker: Das IS-LM-Modell in einem Scheingefecht. In: Harald Hage mann u.a (Hrsg), Keynes,Geld und Finanzen, Marburg (Metropolis), S57-86
Barens, Ingo (1999): From Keynes to Hicks – an Aberration? IS-LM and the Analytical Nucleus of the General Theory. In: Howitt, Peter u.a. (Hrsg.): Money, Markets and Method. Cheltenham/Northampton, Ma. (Edward Elgar), S. 85-120.
Barens, Ingo/Caspari, Volker (1999). Old Views and New Perspectives: On Re-reading Hicks’s “Mr. Keynes and the Classics”. The European Journal of the History of Economics Thought. Bd. 6, S. 216-241.
Coddington, Alan (1979): Hicks’ Contribution to Keynesian Economics. Journal of Economic Literature, Vol. 17, S. 970-988.
Hagemann, Harald/Steiger, Otto (1988): Keynes’ General Theory nach fünfzig Jahren. In dem von ihnen herausgegebenen Band mit demselben Titel. Berlin (Duncker & Humblot), insbes. S. 13-20.
Hicks, John (1936): Mr. Keynes’ Theory of Employment. The Economic Journal, Vol. 46, S. 238-253.
Hicks, John (1967): Critical Essays in Monetary Theory. (Oxford University Press).
Hicks, John (1974): The Crisis in Keynesian Economics. Oxford (Blackwell).
Keynes, John Maynard (1936): The General Theory of Employment, Interest and Money. London etc. (Macmillan).
Keynes, John Maynard (1937a): Letter to J.R. Hicks. In: Collected Writings of John Maynard Keynes, Vol. XIV, hrsg. von Donald Moggridge: The General Theory and After. Part II: Defence and Development. Cambridge (Cambridge University Press ) 1973, S. 79-81.
Keynes, John Maynard (1937b): The General Theory of Employment. Quarterly Journal of Economics, Vol. 51, S. 209-223 (Collected Writings, Vol. XIV, S. 109-123).
Meade, James (1936/37): A Simplified Model of Mr. Keynes’ System. Review of Economic Studies, Vol. 4, S. 98-107.
Anlage 1: „Mr. Keynes and the ‚Classics’: A Suggested Interpretation“