C.I. Kernpunkte der neoklassischen Theorie
1. Individualistischer Ausgangspunkt
FĂŒr die neoklassische Theorie ist charakteristisch, dass sie ihren Ausgangspunkt bei dem nutzenmaximierenden Verhalten des einzelnen, isoliert handelnden Individuums oder des einzelnen, kleineren ebenfalls isoliert handelnden Unternehmers nimmt. Gefragt wird, wie jeder Einzelne seinen Nutzen aus den vorhandenen, ihm zur VerfĂŒgung stehende Ressourcen an Arbeitskraft, Ausbildung und Geld-(-Kapital) bei gegebener Technik maximiert.
Die Neoklassik bricht damit mit der Tradition der klassischen Theorie: Die groĂen Themen der ökonomischen Klassiker waren das dynamische Wachstum von Einkommen und Wohlstand durch technischen Fortschritt und Arbeitsteilung sowie die Verteilung der Einkommen auf die gesellschaftlichen Gruppen. Beide Problembereiche waren auch Gegenstand der Theorie von Marx, der die Bewegungsgesetze des kapitalistischen Wachstums enthĂŒllen wollte; insofern gehört auch Marxâ Theorie zur klassischen Ăkonomie.
Ausgelöst wurde diese Neuausrichtung durch drei unabhĂ€ngig voneinander forschende Ăkonomen. Dies waren der Franzose LĂ©on Walras (1834-1910), der EnglĂ€nder William Jevons (1835-1882) und der Ăsterreicher Carl Menger (1840-1921). FĂŒr die Verbreitung dieser neuen Problemsicht und âanalyse waren die âPrinciples of Economicsâ des britischen Ăkonomen Alfred Marshall (1842-1924) sehr wichtig, die ab 1890 in immer neuen Auflagen erschienen und die âPrinciplesâ von John Stuart Mill als âdasâ Standardwerk ablösten.
Dieser Wechsel in der Fragestellung und in der dominierenden Methode (nĂ€mlich der Anwendung der MaximierungskalkĂŒle) wird auch als âmarginalistische Revolutionâ bezeichnet; dies verdeutlicht, dass der Begriff Neoklassik durchaus irrefĂŒhrend ist.
2. Gleichgewichtsidee und vollstÀndige Konkurrenz als Ideal
Um sich auf die MaximierungskalkĂŒle der einzelnen, fĂŒr sich handelnden Individuen und Unternehmer konzentrieren zu können, wird unbeschrĂ€nkte Konkurrenz zwischen (im Prinzip unendlich) vielen kleinen Anbietern und Nachfragern als Ausgangspunkt gewĂ€hlt. Alle diese Akteure passen sich die jeweils geltenden Preise an, auf die der einzelne Akteur wegen seiner Kleinheit keinen Einfluss hat. Diese Preise sind völlig flexibel. SpĂ€ter wĂŒrden dann realitĂ€tsnĂ€here MarktverhĂ€ltnisse wie Monopole, Oligopole und die daraus resultierenden Preisbildungsprozesse betrachtet, u.a. in der Theorie der kooperativen Spiele, in der die Akteure die Reaktionen anderer Akteure (Spieler) in ihre KalkĂŒle einbeziehen. Fixpunkt aber blieb die âIdealformâ der vollstĂ€ndigen Konkurrenz, obwohl insbesondere Schumpeter (1928) betonte, dass von den vielen kleinen Anbietern, die bei dieser Marktform vorausgesetzt wird, technischer Fortschritt kaum zu erwarten ist.
Auf der Ebene der MĂ€rkte, auf denen die Entscheidungen der einzelnen Akteure durch den Preismechanismus in Ăbereinstimmung gebracht werden, wird die entsprechende Gleichgewichtslösung stets als stabiles Gleichgewicht interpretiert. Diese Gleichgewichtsidee bezeichnet Neumann (1988, S. 210) als zweite zentrale Idee der Neoklassik.
3. Konstruktion einer âAllgemeinen Gleichgewichtstheorieâ
Auf der Makroebene waren die Neoklassiker bestrebt, Aussagen ĂŒber die Gesamtwirtschaft und das dort entstehende gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht abzuleiten. Allerdings bleiben sie ihrer einzelwirtschaftlichen Betrachtungsweise verhaftet, weswegen sie nicht beachten, dass das verĂ€nderte Verhalten einer Gruppe von Akteuren auf das Verhalten der anderen Gruppen einwirkt und dann auf die zuerst genannte Gruppe zurĂŒckwirkt. M.a.W.: Sie vernachlĂ€ssigen die KreislaufzusammenhĂ€nge. Dies grenzt die Aussagekraft der neoklassischen Allgemeinen Gleichgewichtstheorie ein; dies verdient eine vertiefte BegrĂŒndung.
Es war schon Walras gelungen, die Handlungen der einzelnen Individuen und Unternehmen in mathematischen Gleichungen auszudrĂŒcken, sodass er aus den einzelwirtschaftlichen Gleichgewichten auch ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht ableiten konnte, bei dem jeder Einzelne die fĂŒr ihn gĂŒnstigsten Situation (bei den sich ergebenden gleichgewichtigen Preisen) erreicht.
Dieses theoretische Konstrukt von Walras lĂ€sst allerdings ein grundsĂ€tzliches Problem ungelöst: Wie bilden sich die Preise, wenn alle Unternehmen und Konsumenten Mengenanpasser sind? Walras meint dazu, die Preise bildeten sich durch Herantasten (TĂątonnement) an den Gleichgewichtspreis. Er sagt aber nicht, wer diese tastenden Schritte vornimmt, noch berĂŒcksichtigt er, dass Herantasten Zeit erfordert. Vielmehr nimmt er vereinfachend an, die Anpassungen erfolgten so rasch, dass die tatsĂ€chlichen Transaktionen erst vorgenommen werden, wenn sich der marktrĂ€umende Gleichgewichtspreis herausgebildet hat. Diese Annahme hat den scheinbaren Vorteil, dass die Theorie sich auf die Gleichgewichtssituation beschrĂ€nken kann.
Die auf Walras aufbauende moderne âAllgemeine Gleichgewichtstheorieâ, die vor allem von Arrow/Debreu (1954) formuliert worden ist, hat allerdings gezeigt, dass diese Annahme an einschrĂ€nkendere Bedingungen geknĂŒpft ist, als Walras meinte. Insbesondere setzt eine genĂŒgend rasche Ermittlung von Gleichgewichtspreisen vollstĂ€ndige Information und Voraussicht voraus, und zwar entweder bei allen Akteuren oder bei einem zentralen Preisermittler. Letzterer wĂŒrde in Analogie zu dem Auktionator an der Börse handeln.
So wie dieser aus Angebot und Nachfrage tĂ€glich den Gleichgewichtskurs ermittelt, so soll der Walras-Auktionator die Gleichgewichtspreise ermitteln. Dazu erhĂ€lt er von allen Anbietern und Nachfragern ihre Angebots- bzw. Nachfragekurve mitgeteilt. Bei den Anbietern setzt dies vollstĂ€ndige Konkurrenz voraus (Mengenanpasserverhalten), denn nur dann gibt es eine Angebotskurve. Sieht sich ein Produzent dagegen einer fallenden Preisabsatzfunktion gegenĂŒber, so sucht er sich aus dieser Funktion die fĂŒr ihn gĂŒnstigste Preismengenkombination heraus. Zu jeder Preisabsatzfunktion gibt es nur einen Angebotspunkt. Bei den Nachfragern genĂŒgt nicht, dass jeder Nachfrager (privater Haushalt) fĂŒr jedes Gut eine Nachfragekurve mitteilt. Vielmehr ist jeder Haushalt zugleich Anbieter auf dem Arbeitsmarkt. Je nachdem, welches Einkommen sich fĂŒr ihn auf dem Arbeitsmarkt auf der von ihm gemeldeten Arbeitsangebotskurve ergibt, hat er eine andere Nachfragekurve nach den einzelnen GĂŒtern. Jeder Haushalt muss also eine Schar von Nachfragekurven angeben fĂŒr alle alternativen Kombinationen von Lohnsatz und Arbeitseinsatz gemÀà seiner Angebotskurve. Dadurch erhĂ€lt der Auktionator die Informationen, welche GĂŒtermengen der Haushalt bei welcher Lohnsumme zu kaufen bereit ist. Clower (1975) hat diese Nachfrageschemata als âNotional Demandâ (gewĂŒnschte Nachfrage) bezeichnet.
Da es den Auktionator nur an der Börse gibt, haben die Vertreter der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie darĂŒber nachgedacht, bei welchen anderen institutionellen Regelungen eine rasche Ermittlung der Gleichgewichtspreise möglich wĂ€re. Das Ergebnis dieser Ăberlegungen ist: Es mĂŒsste eine vollstĂ€ndige Menge âkontingenter ZukunftsmĂ€rkteâ geben; das sind MĂ€rkte, auf denen bedingte GeschĂ€fte mit zukĂŒnftiger Wirksamkeit abgeschlossen werden (ein Beispiel dafĂŒr sind die DevisentermingeschĂ€fte mit gleichzeitigem GegengeschĂ€ft). Auch solche MĂ€rkte gibt es in der RealitĂ€t nur vereinzelt.
Die Allgemeine Gleichgewichtstheorie kann daher keine Aussagen ĂŒber die RealitĂ€t machen, sondern nur als Referenzsystem interpretiert werden. Arrow/Hahn (1971, S. VI/VII) beantworten in ihrem Standardwerk zu dieser Theorie die Frage, âwhether this enquiry into an economy, apparently so abstracted from the world, is worthwhileâ, damit, dass man aus der Frage, ob die RealitĂ€t so aussehen könnte, viel darĂŒber lernen kann, weshalb dies nicht der Fall sein dĂŒrfte.
Die Allgemeine Gleichgewichtstheorie hat, wie Hahn (1981, S. 4) betont, lediglich die logische Möglichkeit eines walrasianischen Systems aufgezeigt: âNothing whatever has been said of whether it is possible to describe any actual economy in these terms.â
Diese Begrenzung wird jedoch nicht von allen Vetretern der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie beachtet. So schreiben Hildenbrand/Kirman (1976, S. 27), die Ergebnisse der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie seien fĂŒr sehr groĂe Volkswirtschaften âalmost trueâ. Als Argument fĂŒr ihre behauptete GĂŒltigkeit wird dann zuweilen angefĂŒhrt, die Wirtschaftssubjekte verhielten sich eben so, als ob es einen Auktionator gĂ€be. FĂŒr diese Hypothese wird aber weder eine ErklĂ€rung geliefert, weshalb die Wirtschaftssubjekte sich so verhalten, noch gibt es dafĂŒr einen empirischen Beleg. AuĂerdem fragt man sich vergeblich, wie die Wirtschaftssubjekte sich ĂŒberhaupt in dieser Weise verhalten können, wenn der Auktionator, der ihre Entscheidungen erst koordinieren soll, nicht existiert.
4. Modelle mit nur einem reprÀsentativen Akteur
Trotz dieser Irrelevanz fĂŒr die Analyse real existierender kapitalistischer Marktwirtschaft dominieren in der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion Modelle des âDynamischen, Stochastischen Allgemeinen Gleichgewichtsâ (Dynamic Stochastic General Equilibrium = DSGE-Modell). Die Aufnahme dynamischer und stochastischer Elemente kann allerdings nicht verdecken, dass die grundlegenden Probleme dieser neoklassischen Gleichgewichtsanalyse ungelöst bleiben. Dabei hilft es auch nicht, wenn in diesen Modellen ein reprĂ€sentativer Haushalt der einzige Akteur ist und gleichzeitig alle Konsum-, Investitions- und BeschĂ€ftigungsentscheidungen trifft. Es ist klar, dass dann KoordinationsmĂ€ngel und damit Kreislaufprobleme nicht auftreten können.
Literatur
Arrow, Kenneth / Debreu, Gerard (1954), Existence of an Equilibrium for a Competitive Economy. âEconometricaâ, Vol. 22, S. 256-290.
Arrow, Kenneth / Hahn, Frank (1971), General Competitive Analysis. San Francisco, Edinburgh (Holden-Day, Oliver & Boyd).
Clower, Robert (1975), Reflexions on the Keynesian Perplex. âZeitschrift fĂŒr Nationalökonomieâ Bd. 35. Wiederabgedruckt in: Donald Walker (Hrsg.), Money and Markets. Essays by R. Clower. Cambridge etc. (Cambridge U.P.) 1986. Deutsch in: Hagemann, Harald u.a. (Hrsg.), Die neue Makroökonomik. Marktungleichgewicht, Rationierung und BeschĂ€ftigung. Frankfurt/New York (Campus), 1981, S. 86-104.
Hahn, Frank (1981), General Equilibrium Theory. In: D. Bell und I. Kristol (Hg.), The Crisis in Economic Theory. New York (Basic Books). Deutsch: Die allgemeine Gleichgewichtstheorie. In: D. Bell und I. Kristol (Hg.), Die Krise der Wirtschaftstheorie. Berlin etc. (Springer), 1984, S. 154-174.
Hildenbrand, Werner / Kirman, Alan (1976), Equilibrium Analysis. Variations on Themes by Edgeworth and Walras. Amsterdam-Oxford-New York (North-Holland).
Neumann, Manfred (1998), Neoklassik. In: Otmar Issing, Hrsg. Geschichte der Nationalökonomik, 2. Auflage, MĂŒnchen (Vahlen)
Schumpeter, Joseph A (1926), Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. MĂŒnchen/Leipzig (Duncker & Humblot), 2. Auflage, 1926 (1. Auflage 1911).