Keynes
Gesellschaft

A.III.2. Economic Possibilities for our Grandchildren
„Nation and Athenaeum“ 1930, (CW, Vol. IX, S. 321-332)

Deutsch in Norbert Reuter (2007), Wachstumseuphorie und Verteilungsneutralität Wirtschaftspolitische Leitbilder zwischen gestern und morgen. 2. Auflage Marburg (Metropolit).  
Peter Kalmbach, Uni Bremen

Dieser Aufsatz erschien ursprünglich in zwei Folgen in Nation and Athenaeum und zwar am 11. und 18. Oktober 1930 – zu einer Zeit also, zu der die Weltwirtschaftskrise bereits voll ausgebrochen war. Schon das Thema widerlegt diejenigen, die Keynes für ausschließlich an der kurzen Frist interessiert halten. Für diese Einschätzung hat sein immer wieder zitierter Ausspruch „In the long run we are all dead“ gesorgt. Dabei ist allerdings im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten, dass sich diese Aussage in dem bereits 1923 erschienenen Werk A Tract on Monetary Reform (siehe Nr. 5 in Monographien) findet und nicht in dem Hauptwerk von Keynes, der General Theory. Es ist deshalb nicht korrekt, diesen Ausspruch als Charakterisierung für die General Theory zu verwenden, und schon gar nicht, ihn als Beleg für Keynes‘ Desinteresse an der langen Frist anzuführen.

In diesem Aufsatz ist Keynes jedenfalls ganz uninteressiert an kurzfristigen Fragen. Obwohl der Beitrag mitten in der großen Depression verfasst wurde, geht es dem Verfasser um „the trend of things“ (Keynes CW, IX, S. 322). Was ihn hier beschäftigt, ist die ganz langfristige Perspektive. Zunächst rückwärtsgewandt stellt er fest, dass in den 4000 Jahren, die vor dem Jahr 1700 liegen, kein nachhaltiger ökonomischer Fortschritt erfolgt sei, obwohl immer wieder einmal Verbesserungen, dann aber auch wieder Verschlechterungen eingetreten seinen. Dabei seien die Ausschläge in der ganzen langen Zeit aber höchstens so gewesen, dass eine besonders erfolgreiche Epoche um maximal 100 Prozent über einer besonders problematischen gelegen habe.

Vergleicht man das mit den Zahlen von Maddison (2001), die heute allgemein verwendet werden, wenn man langfristige Trends quantitativ auszudrücken versucht, so liegt Keynes mit dieser Einschätzung nicht so schlecht. Für die gesamte Welt schätzt Maddison, dass im Jahr 1700 das BIP pro Kopf (in konstanten Preisen) um 39% höher lag als im Jahr 0, für West-Europa um 42 Prozent. Angesichts der Länge der Zeitperioden, in der dieser Anstieg erfolgte, und insbesondere im Vergleich mit der Entwicklung, die dann im 19. Jahrhundert einsetzte, wird man das in der Tat als quasi stationär einschätzen können.

Beginnend mit dem 16. Jahrhundert hat sich aber etwas geändert. Kapitalakkumulation und technischer Fortschritt haben dazu geführt, dass trotz starker Bevölkerungsvermehrung in Europa und in den USA ein deutlicher Anstieg des Lebensstandards eingetreten ist – Keynes spricht von einer Vervierfachung. Nach den Berechnungen von Maddison lag in Westeuropa 1913 das reale BIP pro Kopf um den Faktor 4,5 über dem Wert von 1500, in den USA um den Faktor 13. Wie von Keynes zu Recht hervorgehoben wird, entfaltet der Zinseszins eine mächtige Kraft; wenn man längere Zeiträume betrachtet, haben bereits vergleichsweise niedrige positive Wachstumsraten einen erheblichen Anstieg der Ausgangsgröße zur Folge.

Keynes sieht die Chancen weiterer Produktivitätssteigerungen keineswegs als ausgereizt an. Er hält es vielmehr für möglich, dass noch zu Lebzeiten seiner Generation so starke Effizienzsteigerungen eintreten werden, dass ein Viertel der menschlichen Anstrengungen genügen könnte, um die gesamtwirtschaftliche Produktion zu erstellen. Daraus können kurzfristig Probleme entstehen. In diesem Zusammenhang verweist Keynes auf die technologische Arbeitslosigkeit, die in der General Theory dann keinerlei Rolle mehr spielen sollte: „We are inflicted with a new disease of which some readers may not yet have heard the name, but of which they will hear a great deal in the years to come, technological unemployment“ (Keynes, CW, IX, S. 325).

Das sind jedoch Anpassungsprobleme. Hundert Jahre voraus, also auf das Jahr 2030 blickend – das betrifft dann allerdings eher die Urenkel als die Enkel von Keynes – kommt er zu dem Ergebnis, dass eine so starke Steigerung unseres Lebensstandards möglich ist, dass man das ökonomische Problem als gelöst ansehen kann. „This means that the economic problem is not – if we look into the future – the permanent problem of the human race“ (Keynes, CW, IX, S. 326).

Keynes stellt sich die Frage, ob die Menschheit mit einer so fundamentalen Veränderung überhaupt zu Rande kommen wird. Die Reichen seiner Zeit machen ihm da wenig Hoffnung. Er vertraut jedoch auf eine zunehmende Erfahrung mit „the new-found bounty of nature“ (Keynes, CW, IX, S. 328). Die „Liebe zum Geld“ – ein von ihm auch in anderen Arbeiten oft gebrauchter Begriff – wird unter den neuen Verhältnisssen als das erkannt werden, was sie wirklich ist: “

Zuletzt spricht dann aber wieder Keynes, der Realist. „The time for all this is not yet. For at least another hundred years we must pretend to ourselves and to everyone that fair is foul and foul is fair; for foul is useful and fair is not“ (Keynes, CW, IX, S. 331).

Literatur

Keynes, J. M. (1972), Economic Possibilities for our Grandchildren, in: The Collected Writings of John M. Keynes, Vol. IX, London u.a. 1972, S. 321 – 332.

Maddison, A. (2001), The World Economy, A Millennial Perspective, Development Centre of the OECD, Paris

Pecchi, Corenzo/Piga, Gustavo (2011), Revisiting Keynes: Economic Possibilition for our Grandchildren. Cambridge, MA, MIT-Press.