Keynes
Gesellschaft

A.III.1. Am I a Liberal?
“Nation and Athenaeum”, 1925

John Maynard Keynes, The Collected Writings of John Maynard Keynes, Vol. IX, Essays in Persuasion, London 1972, S. 295-306
Deutsch in Norbert Reuter (2007), Wachstumseuphorie und Verteilungsneutralität Wirtschaftspolitische Leitbilder zwischen gestern und morgen. 2. Auflage Marburg (Metropolis).
von Peter Kalmbach, Bremen

Keynes hat konservative, Labour- und liberale Regierungen beraten, sich selbst der liberalen Partei aber politisch am meisten verbunden gefühlt. Das mag aus verschiedenen Gründen überraschen. Um nur einen zu nennen: Es war sein Werk, das wie kein anderes im 20. Jahrhundert dazu beigetragen hat, die alten liberalen Ideen von der Überlegenheit einer staatlich möglichst unbeeinflussten und sich selbst überlassenen Wirtschaft in Frage zu stellen. Als von Hayek 1944 sein Buch The Road to Serfdom veröffentlichte, richtete sich das nicht nur gegen planwirtschaftliches Denken, sondern eben auch gegen die an Einfluss gewinnenden Ideen von Keynes, der in den Augen von Hayeks ganz sicher alles andere als ein Liberaler war.

In der auf der Liberal Summer School vorgetragenen und dann 1925 in Nation and Athenaeum veröffentlichten Rede Am I a Liberal? unternimmt es Keynes, sein Verhältnis zum Liberalismus zu diskutieren. Dieser Beitrag fällt in den von seinem Biographen Skidelsky (1992) auf die Periode 1924-1929 datierten Zeitraum, in dem Keynes am stärksten mit der Politik der Liberalen Partei in seinem Land verbunden war und in dem er darauf auch Einfluss zu nehmen versuchte.

Keynes liefert in seinem Beitrag alles andere als ein liberales Bekenntnis ab. Er gibt zunächst zu erkennen, was ihn hindert, sich der konservativen Partei oder der Labour Party anzuschließen. Gegenüber den Konservativen hören wir von ihm zuerst noch sehr allgemein: „They offer me neither food nor drink – neither intellectual nor spiritual consolation“ (Keynes IX, S. 296). Er begründet seine Distanz zur konservativen Partei dann aber vor allem mit deren Verteidigung eines Erbrechts, das die Übertragung von Vermögen und Unternehmenskontrolle sichern soll.

Distanziert äußert sich Keynes auch gegenüber der Labour Partei. Insbesondere gegenüber deren extremem linken Flügel („the Party of Catastrophe“) grenzt er sich scharf ab. Eine bessere Meinung hat er von der moderaten Führung der Labour Partei, traut ihr aber nicht zu, die auf Vorurteil und Missgunst basierenden Strömungen ganz zu neutralisieren. Insbesondere ist es aber seine Herkunft und ein gewisses elitäres Bewusstsein, das für ihn die Labour Partei wenig attraktiv macht. Das findet Ausdruck in seiner häufig zitierten Bemerkung: „[T]he class war will find me on the side of the educated bourgeoisie“ (Keynes, CW IX, S.297).“

Was nun den Liberalismus anbetrifft, so befasst sich Keynes kaum mit der Frage, die der Titel eigentlich erwarten lässt, nämlich wie nahe seine Überzeugungen mit denen der liberalen Partei übereinstimmen. Er dreht vielmehr den Spieß geradezu um, indem er die ihm zu seiner Zeit wichtigen Fragen benennt, seine Antworten darauf andeutet und die liberale Partei gleichsam auffordert, sich von liebgewordenen, aber nicht mehr in die Zeit passenden Vorstellungen zu verabschieden und sie einlädt, sich diese seine Antworten zu eigen zu machen. Der Beitrag endet mit der Frage: „Am I a Liberal?“ Die Frage ist aber mehr an die Liberalen gerichtet: Sind diese so weit, sich den von Keynes für zentral gehaltenen Fragen zuzuwenden und darauf Antworten zu geben, die auf seiner Linie liegen?

Es sind fünf Fragen, die Keynes für diesen Lackmustest nennt: Die Friedensfrage, Fragen der Regierung, Geschlechterfragen, Drogenfragen und ökonomische Fragen. Was die Fragen von Krieg und Frieden anbetrifft, empfiehlt Keynes eine möglichst pazifistische Haltung („let us be pacifist to the utmost“, CW IX, S. 301). Was die Fragen der Regierung anbelangt, so sieht Keynes zusätzliche Aufgaben auf den Staat zukommen, spricht sich für Dezentralisierung und für die Gründung halb-autonomer Korporationen aus, an die Aufgaben delegiert werden sollen, ohne freilich demokratische Prinzipien und die Souveränität des Parlaments zu verletzen. „Sex questions“ sind für Keynes in erster Linie Fragen, die die beiden Geschlechter, insbesondere aber die Frauen betreffen (Geburtenkontrolle, Scheidung, Rolle erwerbstätiger Frauen), angesprochen wird aber auch die Haltung der Politik gegenüber einem abweichenden sexuellen Verhalten. Bei der Drogenfrage steht vor allem, der Zeit entsprechend, die Frage der Prohibition im Vordergrund. Keynes sieht aber auch das Glücksspiel als eine Art von Droge an und stellt fest: „I expect that the prohibition of alcoholic spirits and of bookmakers would do good“ (CW IX, S. 303). Allerdings gibt er aber auch zu bedenken, ob man davon nicht zumindest zeitweilige Ausnahmen zulassen müsse.

Doch kommen wir zu den ökonomischen Fragen, für die sich Keynes besonders zuständig sieht. Er orientiert sich zunächst an dem amerikanischen Ökonomen Commons, der drei ökonomische Epochen unterscheidet. Die erste bezeichnet er als die Epoche der Knappheit, die ihm zufolge zwischen dem fünfzehnten und siebzehnten Jahrhundert endet. Ihr folgt die Epoche der Fülle, verbunden mit laissez-faire und dem historischen Liberalismus. Die dritte Epoche, in die man nach der Auffassung von Commons und Keynes in der damaligen Zeit gerade eintritt, ist die „Epoche der Stabilisierung“. In ihr kommt es zu einer Einschränkung individueller Freiheiten, einerseits durch verstärkte Staatseingriffe, vor allem aber durch kollektive Aktionen von Vereinigungen, Interessengruppen, Gewerkschaften, usw. Unter diesen veränderten Bedingungen ist es nicht länger möglich, alles den Kräften des Marktes, also dem Spiel von Angebot und Nachfrage zu überlassen. Neue Instrumente und Politikansätze sind notwendig, um die Wirkung ökonomischer Kräfte mit den sich entwickelnden Vorstellungen von sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit in Übereinstimmung zu bringen. Keynes spricht in diesem Zusammenhang insbesondere auch die Geldpolitik an: „It is not an accident that the opening stage of this political struggle … should centre about monetary policy“ (CW IX, S. 306). Dahinter steht Keynes‘ Kritik an der Wiedereinführung des Goldstandards in Großbritannien, dessen Wirkungsweise ihm zufolge den Ideen von sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit widerspricht, denen Rechnung zu tragen ist. Wie auch in anderen Arbeiten von Keynes stehen bei ihm nicht die Fragen der Einkommens- und Vermögensverteilung im Vordergrund. An denen ist Keynes nur mäßig interessiert. Es ist vielmehr die Instabilität der Marktwirtschaft, die damit verbundene Unberechenbarkeit der Entwicklung und die daraus sich ergebenden höchst ungleichmäßigen Folgen für unterschiedliche Gruppen der Bevölkerung, vor allem im Hinblick auf die Sicherheit der Arbeitsplätze, die ihm als Problem erscheinen und die durch makroökonomische Stabilisierungsmaßnahmen verhindert werden müssen.

 

Literatur

Robert Skidelsky, John Maynard Keynes, Vol. II, The Economist as Saviour, 1920-1937, London 1992